Mia ist überzeugte Vegetarierin.

Eric spielt gerne mit Sand.

Steffi fährt ausnahmslos schnelle Autos.

Friedl liebt es umarmt zu werden.

Pia mag die Stille des Waldes und Dorian das Rauschen des Meeres.

Waltraud liebt Rotwein und Aaron hasst Alkohol.

Georg fühlt sich in seiner rot gestrichenen Wohnung so richtig wohl.

Danielas Kleidung ist nur schwarz.

Roland hat immer frisch geputzte Schuhe.

Silvia schaut gerne fern.

Nick nimmt sich zum Essen immer viel Zeit.

 

Was denken Sie? Wer von den Genannten ist ein Mensch mit besonderen Bedürfnissen?

Ist es nicht so, dass jeder Mensch besonders ist und jeder Mensch Bedürfnisse hat? Warum wird in Bezug auf Menschen mit Behinderung dann von „besonderen“ Bedürfnissen gesprochen?


Heute, 3. Dezember ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung. Der von den Vereinten Nationen ausgerufene Gedenk- und Aktionstag, soll das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Probleme von Menschen mit Behinderung wachhalten und den Einsatz für die Würde, Rechte und das Wohlergehen dieser Menschen fördern.

Und vergesst nicht: Genießt die schönen Momente des Tages mit einem Lächeln!

Hier geht’s zum 2. Türchen

Da stehen in der Wolf Dietrich Halle im Schloss Mirabell lauter Frauenfiguren. Blutrot. Neugierde. Man tritt näher an eine Figur heran, denn auf ihrer Brust steht etwas geschrieben: Maria T., 56 Jahre, 2 erwachsene Kinder (1 Sohn  und 1 Tochter). Maria T. wurde 2008 von ihrem Lebensgefährten erstochen.

Auf den anderen Figuren ähnliche Geschichten mit dem gleichen Ende:


Am Schluss ist die Frau immer tot. Von Anna über Maria bis zu Zahide. Sie sind alle tot. Alle Geschichten stehen in irgendeinem Medium, einer Zeitung, man hört davon im Radio. Die Frauen mit den österreichischen Namen sind oft Opfer einer Familientragödie. Die Frauen mit den ausländischen  Namen erliegen meist einem Ehrenmord. So steht es in den Medien, so wird es diskutiert.

Ich unterscheide nicht. Alle Frauen sind tot, getötet von ihren Ehemännern, Lebensgefährten, Geliebten und Brüdern. Sie sind Opfer von Gewalt. Und diese Gewalt hat für mich nur ein Mascherl: Sie ist erbärmlich, sie ist feige, sie tötet Frauen.

Die Frauenfiguren sind Teil der Kampagne „16 Tage gegen Gewalt an Frauen“, die jährlich von 25. November bis 10. Dezember in vielen Ländern Aufmerksamkeit erregt. Die Figuren erzählen kurze wahre Geschichten über Frauen in Österreich, die erstochen, erschlagen, erschossen oder erwürgt wurden. Alle tot. Eine stumme Mahnung nicht leise zu bleiben und Gewalt an Frauen zu bekämpfen, nicht wegzuschauen, wenn man davon erfährt. Und wenn man selbst betroffen ist Hilfe in Anspruch zu nehmen, sich nicht zu scheuen, jemanden von der Gewalt zu erzählen. Die Polizei einzuschalten und mit Hilfe einer Beratungseinrichtung ein gewaltfreies Leben zu beginnen.

Die Ausstellung ist noch bis 16. Dezember zu sehen.

Titelbild: Stadt Salzburg/Killer

Anmerkungen zum Verhältnis von Religion und Staat auf der Grundlage der Menschenrechte.

Josef P. Mautner

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Moschee in Istanbul

Mit der wachsenden militärischen Durchsetzungskraft der Gewaltherrschaft des sog. „Islamischen Staates“ in weiten Gebieten des Irak und Syriens, vor allem jedoch durch die Anschläge im Zusammenhang mit dem Überfall auf die Redaktion der Pariser Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ ist die Diskussion um das Verhältnis von Religion und (staatlicher) Gewalt sowie verschiedenen religiösen Traditionen und dem sich auflösenden Gewaltmonopol in unterschiedlichen staatlichen Strukturen neu aufgeflammt. Unter dem Eindruck der zweiten, noch verheerenderen Anschlagserie wird sich diese Debatte noch weiter zuspitzen. Was ich weiters befürchte: Sie wird möglicherweise auf die Ebene Sicherheitspolitik und Kontrolle zugespitzt und verengt bleiben. Ein zentrales Faktum ist bislang eher im Hintergrund geblieben: dass der „Islamische Staat“ in seinem Selbstverständnis sowie bereits in seiner Selbstbezeichnung jede Ausdifferenzierung zwischen institutionalisierter Religion und staatlichen Strukturen leugnet – geschweige denn eine Trennung zwischen Religion und Staat anerkennen will.

Einheit von Religion und Staat in der Ideologie des „Islamischen Staates“

Der „Islamische Staat im Irak“ (ISI) wurde bereits im Oktober 2006 in einer Videobotschaft durch einen Vertreter des „ISI-Informationsministeriums“ ausgerufen. Anfang 2007 wurde schließlich ein 90 Seiten umfassendes Staatsgründungsmanifest veröffentlicht.[1] Als zentrale politische Legitimation für die Ausrufung dieses „Staates“ wurde in dem Manifest angegeben, dass die Sunniten im Irak – im Unterschied zu den Kurden und den Schiiten – noch immer keinen eigenen Staat kontrollierten und deshalb Muslime unter Fremdherrschaft seien.  Diese politische Situation stehe – gemäß der religiösen Begründungsfigur des Manifestes – im direkten Widerspruch zu Aussagen des Propheten Mohammed, die in den Hadith-Sammlungen überliefert sind. Einer der Hadithe aus dem Sahih-Werk von Imam Muslim überliefert einen Ausspruch des Propheten, der besagt, dass die Herrschaft über die muslimischen Angehörigen seines Stammes (der Quraisch) ausschließlich den Muslimen unter den Quraisch gebühre.[2] Daraus leitet das Manifest die zentrale politische Zielsetzung der Errichtung eines „Kalifates“, d.h. eines „authentischen“ islamischen Staatswesens ab, das von einem direkten Nachfolger des Gesandten Gottes (des Propheten Mohammed) geführt werde. Weltliche und geistliche Herrschaft  sind – gemäß dem Manifest –  im Kalifat vereint. Es geht von einer untrennbaren Einheit von Religion und Staat aus.

M.E. genügt es nicht, den „Islamischen Staat“ (IS) mit dem Hinweis auf seine verbrecherische Kriegsführung sowie die von ihm begangenen Verbrechen gegen die nicht am Krieg beteiligte Zivilbevölkerung zu delegitimieren. Es bedarf auch einer stringenten Kritik seines religionspolitischen Grundkonzeptes: der behaupteten notwendigen Einheit von Religion und Staat.

Ich habe weder die Legitimation noch die Kompetenz, eine solche Kritik aus islamischer Perspektive vorzutragen, möchte jedoch zumindest einige wesentliche Passagen aus Stellungnahmen offizieller islamischer Institutionen zitieren, um zu verdeutlichen, dass eine solche Kritik von muslimischer Seite bereits geleistet wurde.[3] Selbstverständlich werden in allen diesen Stellungnahmen die Verbrechen des IS aufs schärfste verurteilt und als mit dem Islam unvereinbar erklärt. Ich konzentriere mich hier jedoch ausschließlich auf die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Staat im Kalifatskonzept des IS. In seiner Stellungnahme zum IS weist der Großmufti der Al-Azhar Universität den Anspruch des IS, ein muslimisches Kalifat zu errichten, mit Hinweis auf die Tradition entschieden zurück. Er verneint eine vorgängige Einheit von Religion und Staat im Kalifat und verweist darauf, dass die muslimische Tradition nicht einig war in der wesentlichen Frage, ob das Kalifat eine religiöse oder eine politische Institution sein sollte:

„Historically speaking, Muslims have disagreed over the question of whether the caliphate is a religious obligation or merely a political option as they likewise disagreed over the specific connotation of several texts upheld by some religious schools.“

In einem Offenen Brief vom 27. September 2014 an Dr. Ibrāhīm ʿAwwād al-Badrī alias „Abū Bakr al-Baġdādī“ und an die Kämpfer und Anhänger des selbsternannten „Islamischen Staates“ – unterzeichnet von über 120 Gelehrten – wird das Kalifat zwar als legitimer Teil der islamischen Tradition bejaht, jedoch die Form des Kalifates, wie der IS sie versteht und praktiziert, aus zwei Gründen zurückgewiesen:

„Es ist im Islam verboten, ohne den Konsens aller Muslime ein Kalifat zu behaupten.“
„Loyalität zur eigenen Nation ist im Islam gestattet.“
Die Stellungnahme der VertreterInnen der Standorte für Islamisch-Theologische Studien in Deutschland (Frankfurt/Main, 1. September 2014) bejaht nicht nur vorbehaltlos die demokratisch-freiheitliche Grundordnung europäischen Staatsdenkens, sondern betrachtet sie als wichtige Chance, den Islam unter gegenwärtigen Bedingungen authentisch zu reflektieren und zu leben:

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Kirche in Metz

„In demokratisch-freiheitlich verfassten Staaten Europas sehen wir demgegenüber die Chance, an das reiche Erbe der geistesgeschichtlichen und religiösen Tradition des Islam anzuknüpfen und uns in der Begegnung mit anderen, auch kritischen Perspektiven zu öffnen. (…) Nur durch eine reflektierte Auseinandersetzung mit der islamischen Lehre und Praxis unter freiheitlichen Bedingungen lässt sich die islamische Wissens- und Normenproduktion von krisenhaften Verhältnissen und Kontexten der politischen Repressionen entkoppeln. Und nur so können produktive Antworten des Islam auf die Herausforderungen des globalen Zusammenlebens gefunden werden.“

Privatisierung von Religion als Antwort?

In der europäischen Debatte um den IS sind immer wieder zwei komplementäre Positionen hervorgetreten, die dem Extremismus des Einheitsdenkens des IS wiederum mit extremen Antworten begegnen: Die eine Antwort knüpft an die bereits seit längerem virulente Tradition antiislamischer Vorurteilsmuster an, indem sie in verschiedensten Varianten eine zumindest indirekte geistige Kontinuität zwischen dem Mainstream der islamischen religiösen Tradition und dem islamistischen Extremismus – etwa von AlQuaida oder IS – behauptet. Der deutsch-jüdische Publizist Henryk M. Broder bietet mit seinen rhetorischen Fragen in einem in der Zeitung „Die Welt“ erschienen Kommentar eine exemplarische Argumentationsfigur an:

„Kann schon sein, dass Islam und Islamismus – zu dem es inzwischen auch einen Komparativ gibt: den radikalen Islamismus – nicht ganz deckungsgleich sind. Aber der Übergang ist fließend. Gehören Hamas, die in Gaza das Sagen hat, und Hisbollah, die im Libanon an der Regierung beteiligt ist, zum Islam-Flügel der Umma, während Boko Haram, al-Qaida, al-Nusra, al-Schabaab, die Sauerland-Gruppe und die beiden nigerianischen Konvertiten, die am 22. Mai 2013 den britischen Soldaten Lee Rigby mitten im Londoner Stadtteil Woolwich buchstäblich zu Tode hackten, eher zum Islamismus neigen? Klar ist nur eines: Sie werden alle vom Islamischen Staat getoppt. Und es wird nicht ewig dauern, bis irgendeine noch radikalere Gruppe den IS toppen wird.“[4]

Diese Positionen reichen bis zu der Feststellung, ein reformierter und Säkularität anerkennender Islam sei nicht existent. Er sei nur die Wunschphantasie der euroamerikanischen Eliten, die ihre Bündnisse mit islamischen Eliten nicht aufs Spiel setzen wollten. „Heute aber ist der reformierte und säkularisierte Islam nahezu inexistent. Sich dies nicht einzugestehen (…) ist die reinste Heuchelei des westlichen Establishments, das sich in erster Linie dafür interessiert, sich mit seinen islamischen Partnern die oberste Religion zu teilen, die des Mammons“.[5]

Die zweite Antwort greift die Tradition eines radikalen Säkularismus auf, der eine generelle Tendenz von Religionen zu Intoleranz und Gewalt behauptet und als einzig mögliche Antwort darauf eine radikale Trennung von Staat und Religion sowie die Verbannung der Religion aus dem öffentlichen Raum sieht.  Paolo Flores D‘ Arcais hat in seinem bereits zitierten Artikel zum Anschlag auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ genau diese Ausschließung jeglicher Religion aus dem öffentlichen Raum gefordert und sie als zentrale Zielsetzung eines notwendigen Kulturkampfes postuliert: „Wenn im öffentlichen Raum das Wort Gottes zulässig ist, wird es keinen Raum des zivilen dia-logos mehr geben, sondern nur noch eine Arena für das Gottesurteil (…) Eine Logik, die mit Demokratie und Staatsbürgerlichkeit unvereinbar ist.“[6]

Ähnliche Denk- und Argumentationsmuster weist jene Debatte auf, die im deutschen Sprachraum über die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit geführt wurde, die modernen Menschenrechte mit dem Begriff der „Menschenwürde“ zu begründen. Eine Reihe von Autoren hat dabei die Ansicht vertreten, dass mit dem begründenden Verweis auf die Menschenwürde in der Verfassung (etwa der BRD) der Staat ein religiöses bzw. zivilreligiöses Bekenntnis ablegen würde, das seine prinzipielle Säkularität in Frage stelle.[7] Hinter dem grundsätzlichen Postulat einer unantastbaren Menschenwürde verberge sich eine religiös aufgeladene Norm, die den scheinbar weltanschauungsneutralen Staat wiederum religiös parteilich mache. Menschenwürde als Begründungsprinzip der Menschenrechte diene letztlich dazu, „den normativen Konsequenzen eines stillschweigend vorausgesetzten religiösen Menschenbildes eine scheinbare säkulare Legitimation zu geben.“[8] Und deshalb sei jeder begründende Verweis auf die menschliche Würde – als kryptoreligiösem Begriff – in verfassungsrechtlichen Zusammenhängen zurückzudrängen.[9]

Offene und differenzierte Verhältnisbestimmung

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Buddhistisches Kloster in Osttibet

Vor dem Hintergrund der Herausforderung des IS und der zum Extrem neigenden Antworten darauf erscheint es mir ein notwendiger Beitrag zur Debatte, das Verhältnis zwischen Religion(en) und Staat auf der normativen Basis der Menschenrechte differenziert und als offenen Entwicklungsprozess zu bestimmen. Eine solche Verhältnisbestimmung gründet auf dem Prinzip der religiös-weltanschaulichen Neutralität eines Staates, der sich säkular versteht. Allerdings ist diese Säkularität nicht im Sinne eines ideologisch bestimmten Laizismus zu interpretieren, der wiederum Weltanschauung ist. Andererseits beinhaltet sie auch keine absolute Werteabstinenz, sondern gründet sich auf den Grundwerten der Menschenrechte – im Besonderen den Grundwert der Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Dieses Freiheitsrecht beinhaltet den Anspruch auf Gewährleistung ohne jede Diskriminierung für ALLE: für Angehörige von Mehrheits- wie von Minderheitsreligionen, von gesetzlich anerkannten oder nur vereinsrechtlich institutionalisierten Religionen, für Religionsfreie, Atheisten wie Agnostiker*innen etc. Das Faktum, dass dieses Menschenrecht ein absolut und universal geltendes Recht ist[10] und dass es allen Menschen ohne jeden Unterschied in gleicher Weise zusteht, unterscheidet es von allen Formen einer auf dem Toleranzprinzip beruhenden Religionspolitik. Toleranzpolitik könnte jederzeit die Gewährung von Rechten für eine Religionsgemeinschaft einschränken oder zurückziehen, wenn sie staatspolitische Gründe dafür als gegeben ansieht.[11] Aus dem Prinzip der Gleichberechtigung in der Religions- und Weltanschauungsfreiheit resultiert die spezifische Form einer auf den Menschenrechten gründenden Verhältnisbestimmung zwischen Religion(en) und Staat: Das Verhältnis des Staates zu den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften , denen seine Bürger*innen angehören (wollen), ist das einer auf Respekt beruhenden religiös-weltanschaulichen Abstinenz, die der prinzipiellen Differenz zwischen Religion(en) und Staat Rechnung trägt.[12] Der Staat verzichtet damit auf das besondere Bezogensein auf oder gar die Identifikation mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung. Er gibt kein Heilsversprechen und keine Sinnorientierung. Andererseits behauptet er aber einen prinzipiellen, nicht weltanschaulich gebundenen Vorrang gegenüber religiös-weltanschaulichen Normen. Religiöse Gesetze gelten nur, insoweit sie sich innerhalb der Rechtsordnung einer demokratisch-freiheitlichen Verfasstheit auf menschenrechtlicher Basis bewegen. Nur durch diesen pragmatischen Geltungsvorrang kann auch der Freiheitsraum garantiert werden, den es braucht, damit die Bürger*innen eines Staates ihre Religions- und Weltanschauungsfreiheit unbedingt und gleichberechtigt leben können, damit radikale Religionskritik und religiöser Traditionalismus in einer Gesellschaft Platz finden und Teile eines öffentlichen Diskurses sein können. Diese Form der nichtidentifikatorischen Beziehung zwischen Religion(en) und Staat beinhaltet zum einen das Recht auf Öffentlichkeit wie zum andern auch das Recht auf Kritik und Respekt (selbstverständlich auch auf Kritisiert- und Respektiertwerden) für ALLE: für Religiöse wie für Religionsfreie, für Religionsgegner*innen wie für die Anhänger*innen verschiedener Religionen. Dieses Recht beinhaltet allerdings auch die Verpflichtung auf Einhaltung ebendieser Prinzipien, die ich für mich selbst beanspruche, gegenüber den Anderen: also die Pflicht zum Respektieren der differenten Position – gerade dann, wenn sie weh tut. Zum einen kann es sich dabei etwa um das Akzeptieren einer Form von Religionskritik handeln, die ich als Gläubige*r als „Blasphemie“ verstehe. „Blasphemie“ ist jedoch für bestimmte atheistische Positionen schlicht nicht vorhanden. Denn für deren Vertreter*innen handelt es sich bei Aussagen, die von religiös gebundenen Menschen als „blasphemisch“ qualifiziert werden, um nichts anderes als um die Kritik einer Ideologie, die Gott zum Legitimationsprinzip erklärt. Zum andern kann es sich darum handeln, dass ich als Vertreter einer agnostischen Weltanschauung respektiere, dass das Tragen eines Kopftuches für muslimische Frauen Ausdruck der Freiheit ihrer Religionsausübung sein kann. Denn das Kopftuch zu tragen – was für mich vielleicht lediglich eine Ausformung kultureller Traditionen ist – ist für sie eine religiöse Norm, die auch Teil der Überlieferung des Islam ist. Gerade auch vor diesem Hintergrund sind die Debatten über die Il-Legitimität von Blasphemieverboten oder über die Wahrnehmung von Religions- und Weltanschaungsfreiheit zu führen. Das Recht auf Artikulation von religiösen Überzeugungen und Riten im öffentlichen Raum beinhaltet eben auch als Konsequenz, sich, seine Argumente und seine institutionelle Praxis der öffentlichen Wahrnehmung sowie einem öffentlichen Diskurs auszusetzen. Die Debatte um das „König-Abdullah-Zentrum für interreligiösen und interkulturellen Dialog“ in Wien ist m.E. exemplarisch dafür. Auf der Grundlage respektvoller Unterschiedlichkeit entwickeln sich in einem offenen Prozess auch die verschiedensten Formen der Kooperation zwischen dem Staat und religiösen Institutionen: etwa beim Bau von Gebetsstätten, von Begräbnisstätten, in der Bildungsarbeit und beim Religionsunterricht.

Ein wichtiger Schritt, den staatliche Institutionen in ihrem Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften setzen können, ist die Einrichtung interreligiöser Beiräte auf kommunaler, regionaler wie nationaler Ebene. Solche Beiräte oder Arbeitskreise gibt es bereits in mehreren Städten, z.B. in Hallein, Graz, Heilbronn, Berlin (Berliner Dialog der Religionen) oder Leipzig (Interreligiöser Runder Tisch). In der Arbeit solcher Beiräte kann die Kooperation zwischen staatlichen und religiösen Institutionen vertieft und koordiniert, das Prinzip der Gleichberechtigung zwischen Minderheiten- und Mehrheitsreligionen gelebt und eine religiös-weltanschaulich neutrale Plattform für den Ausdruck gemeinsamer Werthaltungen geschaffen werden – etwa, wenn alle in einem Beirat vertretenen Religionsgemeinschaften gegen antisemitische oder antiislamische Äußerungen bestimmter Gruppen in Wahlkampfzeiten koordiniert und gemeinsam auftreten. Ein noch offenes Desiderat ist m.E. die Einbindung von religionsfreien Gemeinschaften und Institutionen in solche Beiräte, damit diese Form religiös-weltanschaulicher Kooperation im Dreieck zwischen Religionsgemeinschaften, Religionsfreien und staatlichen Institutionen stattfinden kann und nicht nur auf den Dialog Staat – Religion beschränkt bleibt. Es wäre sehr sinnvoll und wünschenswert, wenn ein solcher Interreligiöser und Interweltanschaulicher Beirat auch in Salzburg – wie es auf kommunaler oder auf Landesebene – eingerichtet würde. Gerade die Verschärfung antiislamischer Tendenzen, die auch in Salzburg im Gefolge der Debatten um den IS und die Pariser Anschläge zu spüren war, zeugt von der Notwendigkeit, koordinierter und institutionalisierter Zusammenarbeit zwischen staatlichen Institutionen und Religions- sowie Weltanschauungsgemeinschaften.

[1] Eine Analyse des Manifests findet sich in der Studie von Christoph Günther: Ein zweiter Staat im Zweistromland? Genese und Ideologie des ‚Islamischen Staates Irak‘.
[2] Sahih Muslim Nr. 3389: „Abu Huraira, Allahs Wohlgefallen auf ihm, berichtete; Der Gesandte Allahs, Allahs Segen und Heil auf ihm, sagte: Die Herrschaft über die Leute (d.h. die Araber) gebührt den Quraisch: Die Muslime der Quraisch sind den Muslimen der Quraisch unterworfen, und die Ungläubigen der Quraisch sind den Ungläubigen der Quraisch unterworfen.“
[3] Die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) hat auf ihrer Website eine Reihe solcher Stellungnahmen zusammengefasst: http://www.ciag-marl.de/attachments/article/46/Islamische%20Stellungnahmen%20zum%20IS.pdf.

Eine Sammlung von internationalen christlichen wie muslimischen Äußerungen gegen IS findet sich auch auf der Website der christlich-islamischen Begegnungsstätte der deutschen katholischen Bischofskonferenz: http://www.cibedo.de/islamischerstaat.html.
[4] http://www.welt.de/debatte/henryk-m-broder/article132498528/Liebe-muslimische-Mitbuerger-und-Mitbuergerinnen.html.
[5] So der prominente italienische Publizist Paolo Flores D‘ Arcais in einem Artikel der Zeitschrift „Lettre International“: Wer ist Charlie?, 14. In: Lettre International 108, Frühjahr 2015, 11-17.
[6] Paolo Flores D‘ Arcais: Wer ist Charlie?, 15. In: Lettre International 108, Frühjahr 2015, 11-17.
[7] so u.a. Norbert Hoerster, Franz-Josef Wetz oder Stefan Lorenz Sorgner (Hoerster: Abtreibung im säkularen Staat. Argumente gegen den §218. Frankfurt/Main 1991; Wetz: Illusion Menschenwürde. Aufstieg und Fall eines Grundwerts. Stuttgart 2005; Sorgner: Menschenwürde nach Nietzsche. Die Geschichte eines Begriffs. Darmstadt 2010).
[8] Hoerster, Abtreibung, a.a.O., 121.
[9] Dem entsprechen auf der anderen Seite christlich-konservative bzw. rechtskonservative Positionen, die die Menschenwürde tatsächlich als säkulare Fortführung eines (christlich-)religiösen Prinzips sehen; z.B. Anton Rauscher: Die christlichen Wurzeln der Menschenwürde. In: Ders.: Kirche in der Welt, Bd. 4. Würzburg 2006, 189-197. Eine differenzierte, klärende Erörterung zu dieser Debatte findet sich bei Heiner Bielefeldt: Auslaufmodell Menschenwürde? Freiburg/Breisgau 2011, 145ff.
[10] Verankert etwa in der Europäischen Menschenrechtskonvention, die in Österreich in Verfassungsrang steht.
[11] Eine fatale Tendenz zur Toleranzpolitik zeigt der Prozess einer Neuformulierung des Islamgesetzes in Österreich, wo islamophobe Tendenzen in der Gesellschaft und die aktuelle Debatte um den IS zu Elementen einer Anlassgesetzgebung geführt haben.
[12] Heiner Bielefeldt hat dafür den Begriff der „respektvollen Nicht-Identifikation“ geprägt; siehe: Heiner Bielefeldt: Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft. Bielefeld 2007, 77ff.

Heute war die große Feier zu 25 Jahre Frauenbüros von Stadt und Land Salzburg. Mit einem tollen Theater über drei Frauen aus einer anderen Zeit, deren Tätigkeiten aber auch heute noch ein großes Ohhhhh und Ahhhhh hervorrufen würde: Marie Curie, Lise Meitner und Hedi Lamarr. Große Entdeckerinnen, Forscherinnen, Erfinderinnen in den Naturwissenschaften. Mit Ansprachen von Politikerinnen und Interviews mit den Leiterinnen der Frauenbüros. Und ganz viel Publikum, wo das Geschlechterverhältnis in etwa dem eines österreichischen Aufsichtsrates oder eines Physikkongresses entspricht, natürlich umgekehrt. Also es waren wesentlich mehr Frauen dabei beim Feiern als Männer. Obwohl Männer ja nicht so ungern feiern, was ich so weiß. Und es gab auch was zu essen und zu trinken. Und die Ansprachen, die Interviews und das Theaterstück hätte ich jetzt auch nicht als hardcorefeministisch bezeichnet, also Alice Schwarzer hätte da einiges zu bemängeln gehabt. Normalerweise störe ich mich ja nicht daran, wenn jetzt bei einem Fest kein ausgewogenes Geschlechterverhältnis gegeben ist. Aber heute schon ein bisschen.

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Und zwar darum:

Seit Monaten höre ich in der ganzen Flüchtlingsdebatte auch immer ganz viele Aussagen zu Frauenrechten. Ständig wird in der Politik, in den Medien und am Stammtisch darüber gesprochen, wie gleichgestellt wir hier in Österreich sind. Ich höre das von Menschen, Frauen und Männern, aber insbesondere Männern, die sich in dieser Debatte zu Kämpfern für die Frauenrechte aufschwingen. Von denen man aber Jahr und Tag nichts, aber rein gar nichts, zur Frauengleichstellung gehört hat. Im Gegenteil, das sind dann oft diejenigen, die tausend Argumente finden, warum eine Quote völlig verfehlt ist.

Ganz vieles, was in unserer Gesellschaft an Gleichstellung erreicht wurde, verdanken wir Frauenvereinen, Fraueninstitutionen, Frauenbüros und vielen einzelnen Frauen. Die über die Jahre belächelt, oft als lästig empfunden wurden und erst in den letzten Jahren auf Augenhöhe zu Geschlechterthemen wahrgenommen werden. Die Ergebnisse jahrzehntelanger Frauenarbeit sind herzeigbar, gegen viele Widerstände durchgesetzt, aber noch lange nicht befriedigend.

Und jetzt wäre es ganz schön, wenn alle Frauen und Männer, die bei der Flüchtlings- und Integrationsdebatte die Fahne der Gleichstellung so hochhalten, ganz einfach alle jene unterstützen, die sich weiter darum bemühen, dass wir in Österreich wirklich zu einer echten Gleichstellung kommen. Darum brauchen wir auch weiterhin die Frauenbüros. Auch wenn ein ganz tougher kanadischer Premierminister  2015 das Zeitalter der echten Gleichstellung eingeläutet hat, zumindest in der kanadischen Regierung ;)

von Gabriele Rothuber

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Gabriele Rothuber ist Intersex-Expertin

Familiengeheimnisse, Tabus, über die innerhalb und/oder außerhalb der Familie nicht gesprochen werden, haben eine große Wirkmacht auf das Familiengefüge und deren einzelnen Mitglieder.Als „Tabuthema“ wird ein Thema bezeichnet, das nicht oder nur eingeschränkt öffentlich thematisiert wird. Oft handelt es sich dabei um Gebiete, die wunde Punkte einer Gesellschaft berühren. Auch wenn heute in westlichen Ländern vielfach von einer „Gesellschaft ohne Tabus“ gesprochen wird, gibt es auch hier, wie in jeder Gesellschaft Tabuthemen, die insbesondere bestimmte Zustände der Körperlichkeit ansprechen (Wikipedia)

Intersex berührt wunde Punkte der Gesellschaft, die davon ausgeht, dass es nur Frauen und Männer gibt / geben darf! Intersex fordert dazu auf, die Realität anzuerkennen, dass es Geschlechtsidentitäten jenseits von weiblich und männlich gibt.

Es kann unterschiedliche Beweggründe geben, weshalb über eine gewisse, die Familie oder einzelne Mitglieder betreffende, Thematik nicht gesprochen wird,: so dienen sie etwa bei häuslicher körperlicher / sexueller Gewalt der Macht, Verschleierung und Aufrechterhaltung der “Normalität” nach außen. Eltern können ihre Kinder jedoch auch vor vermeintlicher Abwertung oder Bloßstellung beschützen wollen. Schweigen kann auch einfach dem Warten “auf den richtigen Zeitpunkt” dienen, in dem über das Geheimnis gesprochen werden soll.

Sprachlosigkeit in der Familie

Viele intersexuell Geborene berichten von ebendieser Sprachlosigkeit innerhalb der Familie: so wurde vielen jahrelang nichts über ihre “Besonderheit” erzählt – nicht einmal dann, wenn an den inneren und/oder äußeren Sexualorganen operative Veränderungen vorgenommen wurden!  Dies wird oftmals als Verrat, als ein Ausgeliefertsein, das Fehlen des elterlichen Schutzes und Erschütterung des Urvertrauens empfunden und trägt kaum zu einer gelingenden Eltern-Kind-Beziehung bei.

Die starke Tabuisierung – ein “Familiengeheimnis”, das auf allen Beteiligten, am meisten jedoch sicher auf den Betroffenen lastet – zieht sich meist weiter in die Pubertät und das Erwachsenenalter. Zu groß erscheint die Angst vor Diffamierung, Ausgrenzung und Sensationsgier anderer. Zu groß ist noch immer die gesellschaftliche Tabuisierung von Intersex!

Der Machbarkeitswahn von Dr. Money’s “Optimal Gender Policy” der 50er Jahre ging davon aus, sexuelle Identität unabhängig vom Körper, mit dem man geboren wird, könne anerzogen werden. Inter*Kinder sollten dementsprechend früh einem Normgeschlecht “angepasst” werden – hierüber sollte eine strenge Geheimhaltung herrschen: die Kinder / Jugendlichen sollten niemals erfahren, wie sie geboren wurden.

2005 wurde in der Chicago Consensus Conference u.a. die offene Kommunikation mit Inter* und Eltern als neue Richtlinie festgelegt.

Und doch wirken Money’s Richtlinien in der Medizin bis heute nach!

Familiengeheimnis?

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Einer von 1000 Menschen ist intersexuell – also in Salzburg mehr als 500!

“Von belastender, lähmender, unterdrückender oder dysfunktionaler Wirkung scheinen Familiengeheimnisse vor allem dort zu sein, wo einem oder mehreren Familienmitgliedern sie zutiefst betreffende Fakten vorenthalten werden. Das sind vor allem Fakten um Leben geben und Leben bekommen, Fakten um Tod, schwere Krankheit und schwere Schuld in der Familie. Es sind Informationen, die die Basis, die Wurzel unseres Selbstbildes, unserer Identität, unseres Platzes im Leben betreffen (…)” (Guni-Leila Baxa)

Auch in ihrer Kindheit nicht operierte Inter*Personen[1] beklagen, in der Kindheit nicht über ihre “Besonderheit” aufgeklärt worden zu sein: darüber wurde nicht gesprochen; wohl aber ahnen Inter*Kinder, dass sie “anders” sind als die anderen. Sie werden versteckt, “behütet”, dürfen sich nicht mit anderen Kindern umziehen, sich nackt zeigen oder ihre Körper durch “Doktorspiele” erfahren, dürfen nicht von anderen gewickelt werden etc.: eine natürliche Herangehensweise an kindliche Sexualität mit all ihrem sinnlichen Forscherdrang, wie sie eine psychosexuelle Entwicklung fördert, bleibt vielen Inter*Kindern verschlossen – zu groß scheint die Gefahr, “entdeckt” zu werden.

Belastende Geheimnisse formen die Beziehungen innerhalb der Familie:

die einzelnen Mitglieder wissen, mit wem wie gesprochen werden darf, welche Grenzen nicht überschritten werden dürfen, wo Obacht angebracht ist etc. “Immer ist da die Sorge, an etwas zu rühren, ist da eine Vorsicht und ständige innere Kontrolle worüber gesprochen werden darf und worüber nicht.” (Baxa)

Zur Erklärung:

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Das Open Mind Festival – Foto (c) Hannah Gottschalk

Im medizinischen Ideal-Fall hat ein “Mann” XY-Chromosomen, Testosteron und Spermien produzierende Hoden in einem Hodensack unterhalb seines Penis, der bei der Geburt größer als 2,5 Zentimeter ist und in dessen Eichel die Harnröhre mündet. Sein Körper reagiert auf das Testosteron in der Pubertät mit Haarwuchs, Stimmbruch und Muskelwachstum.

Eine “Frau” hat XX-Chromosomen, weibliche Hormone und Eizellen produzierende Eierstöcke, eine in eine Gebärmutter mündende Scheide unter ihrer bei der Geburt weniger als 0,7 cm großen Klitoris und der darunterliegenden Harnröhre. Ihr Körper reagiert auf die weiblichen Hormone mit der Produktion von Eizellen und Brustwachstum. (Siehe www.vimoe.at)

Rund einer von 1000 Menschen wird allerdings mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen geboren oder entspricht in irgendeiner Weise nicht den klassischen Idealen eines rein männlichen oder weiblichen Körpers – das ist Intersex.

Die ISNA – Intersex Society North America – geht gar davon aus, dass eines von 100 (!) Kindern mit Genitalien auf die Welt kommen, die in irgendeiner Weise nicht „der Norm“ entsprechen! Geschlecht und Normierung geht uns alle an!

Die allermeisten intersexuellen Menschen (ca 85 %) werden aber erst im Laufe ihres Lebens „entdeckt“, etwa in der Pubertät: wenn Hormone den Körper in eine unerwartete Richtung verändern (etwa Ausbleiben der Regel, Stimmbruch, Bartwachstum oder Klitoriswachstum bei „Mädchen“ oder Brustwachstum, Ausbleiben von Bart, Stimmbruch und Peniswachstum bei „Burschen“)
[1] Auch heute noch werden über 85 % der Inter*Neugeborenen chirurgisch/hormonell einem Normgeschlecht angepasst! Dies bedeutet für viele die Wegnahme gesunder Keimdrüsen („Kastration“), die lebenslange Substitution künstlicher Hormone, den Verlust der Zeugungs- oder Gebärfähigkeit, den Verlust sexueller Empfindsamkeit etc.

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Gin Müller & Gorji Marzban „Trans Gender Moves“ Foto (c) Lisbeth Kovacic

In Salzburg veranstaltet die HOSI Salzburg in Kooperation mit der ARGEkultur im Rahmen des Open Mind Festivals „Ich ist eine andere“ am 21.11. einen Trans*Inter*Thementag mit kostenlosen Workshops:

Hier geht es zum Open Mind Festival in Salzburg!

mehr Infos unter:

www.vimoe.at

www.hosi.or.at

www.courage-beratung.at

www.plattform-intersex.at

Dem Tod kann man oft begegnen, wenn man will. Am einfachsten ist es am Friedhof, aber auch jede Gedenktafel an einer Hausmauer ist ein Hinweis auf den Tod. Dazwischen aber ist das pralle Leben – bunt, laut und in Bewegung. Aber es gibt Orte und Landstriche, in denen der Tod die Hauptrolle spielt. Wo sich hinter einem Hügel ein Gräberfeld zeigt, hinter einem Baumstamm Mauerreste und sanfte bemooste Erhebungen der Aushub von Schützengräben sind. Dann ist man rund um Verdun unterwegs, DAS Schlachtfeld des 1. Weltkrieges. DER Stellungskrieg schlechthin. DIE Erprobung von Giftgas. Viele Tote, sehr viele Tote, über 300.000 starben hier und noch einmal so viele entkamen dieser Hölle verletzt.

Ich bin das erste Mal in Verdun und Umgebung. Es ist kein sonniger Tag und es sind nur wenige TouristInnen unterwegs. Wo sich im Sommer Bus an Bus am Parkplatz der Gedenkstätte Douaumont reiht, herrscht gähnende Leere. Nur wenige sind unterwegs zwischen den tausenden Gräbern und im Mahnmal mit dem wunderbaren Licht, im Untergeschoss die Gebeine von Zigtausend Soldaten eingelagert. Unwirklich alles. Das Licht, die Knochen, die vielen Namen, die unendlichen Reihen an Gräbern, davor jeweils eine Rose gepflanzt. Die Namen der Soldaten mit ihrer Funktion und ihrem Sterbetag und natürlich dem Grund des Todes: Mort pour la France. Diese jungen Männer sind als Helden gestorben. Ein paar Kilometer weiter am Friedhof der deutschen Soldaten auch Gräber. Auch Namen, Funktionen und Sterbedaten. Aber niemand ist für etwas gestorben. Die Soldaten hier sind einfach „gefallen“. Fast 100 Jahre später denke ich mir, wie traurig das ist. Ein großer Krieg, beschlossen von der großen Politik. Und hier in Verdun starben die einfachen Soldaten für die Planspiele der großen Feldherrn in Berlin, Wien, Paris, London, Moskau. Machtgier. Krieg.

In Verdun kamen alle erdenklichen Waffen zum Einsatz, vom Bajonett über das Maschinengewehr bis zu Flammenwerfern und Giftgas. Bis zu 10.000 Granaten und Minen gingen stündlich auf den Schlachtfeldern nieder, ohrenbetäubend. Verdun wird als „Blutpumpe“, Knochenmühle“ oder schlicht als „Hölle“ bezeichnet. Die Berichte der Soldaten sind fast unerträglich zu lesen, für mich unvorstellbar, wie jemand so etwas überleben kann. Oft Wochen knietief im Schlamm und im menschlichen Kot, ständig unter Beschuss im Schützengraben kauernd. Wenn der Nachschub Verspätung hatte blieb den Männern oft nichts anderes übrig als Ratten zu essen und den eigenen Urin zu trinken. Junge Männer, die noch kurz vorher ein normales Leben führten, arbeiteten, sich verliebten, gerade geheiratet hatten, sich auf ein Kind freuten. Monate später landeten sie in den Schützengräben von Verdun. Historiker haben die durchschnittliche Überlebensdauer eines Soldaten ausgerechnet: 2 Wochen. Grauenhaft. Krieg.

Aber nicht nur die großen Gedenkstätten lehren einen hier den Krieg zu fürchten.

 

Es geht weiter durch die Wälder. Und dann tauchen sie plötzlich auf die verlassenen Dörfer. So wie Ornes. Die Kirche ist eine Ruine, man wähnt sich in einer antiken Stätte, wären da nicht die herbstlichen Laubbäume rundherum. Oder wie im Ort Louvemont die Tafel mit den Namen der Bürgermeister, die bis heute diesen verlassenen Orten vorstehen. Ich gehe durch die Kirche von Ornes, klettere über eine Mauer, dahinter der tiefe Wald. Die Bäume wachsen auf unterschiedlichen Ebenen, denn die Granatlöcher sind noch zu erkennen. Da ist noch eine Mauer. Vielleicht spaziere ich gerade durch das Wohnzimmer einer französischen Familie, die noch vor 100 Jahren hier friedlich beisammen saß. Bis der Krieg nach Verdun kam und ihr Dorf zerstörte. Und nie wieder besiedelt werden konnte, weil noch überall Blindgänger lauern und das Giftgas die Erde verseuchte. Mir kriecht die Kälte die Beine hinauf, es ist unheimlich. Still, bedrückend und dazu der unnatürlich gewachsene Wald, die Reste der Kirche. Schauerlich. Krieg.

Heute lebt Verdun vom Gedenken an die „berühmteste Schlacht“ des Ersten Weltkrieges. Eine Million TouristInnen kommen und besichtigen die Schlachtfelder, die berühmten Forts mit ihren Heldengeschichten und die Dörfer und Friedhöfe. Und wenn man eine Erinnerung mit nach Hause nehmen will, kann man zwischen Zinnsoldaten, Kaffeetassen, Soldatenschneekugeln und diversen Miniwaffennachbauten wählen. Geschäftssinn. Nach dem Krieg.

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Es gibt auch Hoffnung. Die fast einjährige Schlacht um Verdun war auch einer der Gipfel des Hasses zwischen Frankreich und Deutschland. Und erst im September 1984 standen beim Beinhaus von Douaumont zwei Männer minutenlang händchenhaltend vor den Gräbern von tausenden Soldaten: Präsident Mitterand und Bundeskanzler Kohl

“ Wir haben uns versöhnt, wir haben uns verständigt, wir sind Freunde geworden.“

Die Kriege gehen weiter, das Grauen ist für die Menschen das Gleiche geblieben. Mögen die heutigen Schlachtfelder im Irak, in Syrien, im Kongo, im Sudan, in Afghanistan bald Gedenkstätten sein und dem Frieden weichen. Diese Hoffnung habe ich.