wie mir die regierung meine lieben weggenommen hat. ein offener brief.

sehr geehrter herr bundeskanzler, sehr geehrte mitglieder der österreichischen bundesregierung,

auf seite neun ihres regierungsprogramms steht:

„Die Familie als Gemeinschaft von Frau und Mann mit gemeinsamen Kindern ist die natürliche Keimzelle und Klammer für eine funktionierende Gesellschaft“

dann habe ich also keine familie. als lediges kind, den vater nie kennengelernt, 1973 geboren: da gab es nie „frau und mann mit gemeinsamen kindern“. meine mutter hat er sitzen lassen, sie hat sich im gastgewerbe durchgekämpft. in einer tourismusregion in der obersteiermark, ein freier tag pro woche.

aufgewachsen bin ich bei omi und meinem stiefopa. omi hatte sich in 1940er jahren mit fünf kindern scheiden lassen. ganz genau weiss ich nicht, warum. eine frau, die sich das zu dieser zeit getraut hat, mit fünf kindern in einem kleinen obersteirischen ort, hatte sicher gute gründe. jedenfalls: keine familie.

kriegsjahre

als omi 1937 ihr erstes kind, meine mutter, geboren hat, ist im nachbarzimmer eine schwester an lungenentzündung gestorben. eingefangen beim wäsche schwemmen im winter, im kalten bach. omis vater war witwer, er hatte wieder geheiratet. ein bauer konnte damals nicht allein bleiben. keine familie.

omi hat sich und die kinder durch den krieg gebracht, während ihr erster mann im krieg war. sie hat vielen geholfen, die in graz ausgebombt waren.

mein stiefopa war kriegsversehrter, mit 16 jahren noch eingezogen. sie haben ihm den rechten arm weggeschossen. trotzdem ist er nebenberuflich „ins holz“ gegangen und hat durch einen verirrten splitter auch noch ein auge verloren. er hat mir die ziffern gelernt, und die druckbuchstaben in der zeitung.

aufbaujahre

omi und opa haben vor allem eins: viel gearbeitet. sie haben noch einen sohn bekommen und eine frühstückspension gebaut. zehn betten, kein geschirrspüler. opa war eisenbahner und hat bei den bergbahnen zusätzlich gearbeitet, war engagiert in vereinen. mit einem arm. und einem auge.

sie haben den wirtschaftlichen aufschwung dieser republik mitgetragen und gut für uns gesorgt – mit ziemlich wenig geld. keine familie.

(c) chris lang

erziehung

aus allen kindern und enkelkindern ist was geworden. wir haben die ausbildung bekommen, die gerade möglich war. nur meine cousine und ich konnten die matura machen. genau nach ihrem hauptschulabschluss wurde dank bruno kreisky die nächstgelegene bürgerschule zum öffentlichen gymnasium. ein glück, sonst wär‘ weit und breit nix gewesen. sie ist dann auf die pädak. studieren konnte nur ich.

wir alle arbeiten viel und gut. einige sind oder waren selbständig. die in pension sind, arbeiten ehrenamtlich oder unterstützen die jungen. wir fördern mit unseren ausgaben und steuern den wohlstand der gesellschaft. wenige familien dabei.

daheim haben wir anstand und respekt gelernt. „bitte“, „danke“ und „so gehört sich das“.  und zivilcourage. omi war keine 1,50 groß, aber einmal hat sie auf der grazer messe fünf jungs zusammengeschimpft, die einen anderen gegen einen zaun zusammengeschlagen haben. die sind so was von abgezogen.

(c) alexandra schmidt

fast alle sind reiselustig und neugierig auf andere. einige haben woanders gearbeitet, in italien, der schweiz, in der karibik, in georgien – ich in england und frankreich. wir haben die sprachen gelernt und tun es noch – auch die unter uns ohne matura.

zwei sind viel zu jung verunglückt. es gab‘ manchen argen streit.

weit verstreut daheim

jetzt sind wir weit verstreut, einer wohnt im burgenland und arbeitet in wien, andere sind im salzkammergut, in augsburg, in den usa. ich lebe in salzburg. einer ist wochentags in berlin und schart am wochenende hier mit seiner frau die söhne, schwiegertöchter und enkel um sich.

darunter einige familien in ihrem sinn. hoffentlich passiert nix.

ein anderer war in teilzeit-karenz, ein paar haben eine patchwork-familie, dort sind alle kinder wie die eigenen. manche sind geschieden. eine hat mit 69 nochmal geheiratet.
keine familien.

wir helfen zusammen. mit rat, tat, zeit und geld. in einer social media gruppe teilen wir die schönen augenblicke und manchen traurigen moment. wer zu alt für ein smartphone ist, sieht bei den jüngeren die lieben worte und fotos. wir schreiben uns noch ansichtskarten. und briefe.

(c) privat

und wir feiern. so einmal im jahr kommen alle zusammen und dann ist die hütte voller leben und lachen. schauen sie sich die fotos an.

was ist familie?

ich wünsche ihnen, jedem einzelnen mitglied dieser bundesregierung, von herzen: eine gelingende beziehung, gesunde kinder, die sich gut entwickeln. dass sie glücklich werden. dass niemand schlimm erkrankt oder allzu früh stirbt.

die wahrscheinlichkeit dafür beträgt in österreich zwar nicht mal 60 prozent. aber man kann ja nie wissen.

mir selber wäre am liebsten eine welt voller vielfalt. mit ganzen männern und echten frauen und vielen dazwischen. mit kindern, deren eltern nicht in die rosa-hellblau-falle tappen. für die alles möglich ist. gleich, welcher herkunft. wo familie mehr ist als ihre definition.

denn mir haben sie damit meine familie abgesprochen. dafür sollten sie sich was schämen. ihre einengende, ausgrenzende definition verletzt mich zutiefst. als ob wir minderwertig wären. im gegenteil: ich finde, wir sind eine der besten, ehrenwertesten familien, die es gibt. denn auf jedes einzelne mitglied bin ich stolz. darauf, was alle aus ihren möglichkeiten gemacht haben. auch wenn sie das anders sehen.

(c) alexandra Schmidt