Der Genozid in Bosnien und die Serbin, die für Gerechtigkeit einstand
von Adis Šerifović
Meine Tante und meine Mutter
Sie eilt durch die leeren, aber gefährlichen Straßen von Brčko, eine Stadt im Nordosten Bosniens. Die Schuhe klackern am Boden, sie versucht sich unauffällig zu verhalten. In der Hand hat sie eine Liste mit Namen, Adressen und Wertgegenständen, die den jeweiligen Personen gehören. Langsam und bedacht öffnet sie eine „Kapija“, eine Gartentür, die in die „Avlija“, in den Garten führt.
Der Soldat beim Haus fragt sie nach ihrem Ausweis. Sie zeigt ihm ihren Ausweis aus der Jugendzeit. Der Soldat fragt nach, ob sie einen neueren hätte. Sie verneint. Sie darf passieren und das Haus betreten. Menschen sind im Haus und plündern – jeder nimmt mit, was er tragen kann. Doch Mirjana hat eine Liste. Die Liste der Verwandten ihres Mannes mit dem teuren Schmuck, der im Haus versteckt ist. Sie sucht, findet, packt ihn ein, damit sie ihn später diesen Verwandten zurückbringen kann. Danach eilt sie wieder aus dem Haus. Die Liste ist lang – sie hat noch viel zu tun. Und überall das gleiche Prozedere. Überall mit der gleichen Gefahr: Als „Verräterin“ enttarnt zu werden.
Wer ist die „Verräterin“?
Meine Mutter Mirjana und ihre Mutter
Mirjana Šerifović ist meine Mutter. Sie ist 1961 im damaligen Jugoslawien, heutigen Bosnien, geboren, Mutter von zwei Kindern, serbisch-orthodoxe Christin und meine persönliche Heldin. Warum?
Meine Mutter war nicht wie die gewöhnlichen Menschen in Bosnien, die sich aufgrund ihrer ethnischen und/oder religiösen Herkunft zu unterscheiden versuchten. Sie heiratete in den 80er Jahren den bosnischen Muslim Mirza, meinen Vater. Ein Eheschluss der Liebe und des Vertrauens, obwohl meine Großeltern sie unter enormen Druck setzen, diesen „Fehler“ nicht zu tun. „Sie ist doch eine Serbin“, hörte er. „Er ist ein Muslim!“, wurde ihr vorgeworfen. Den Vorwurf hinter dieser Aussage verstand meine Mutter nie. Sie entschied sich für die Liebe und damit auch für eine schwierige Zukunft, was ihr zu dem Zeitpunkt nicht bewusst war.
Meine muslimische und meine serbisch-orthodoxe Oma
Anfang der 90er Jahre beginnen die Unruhen in Jugoslawien. Im Fernsehen wird von einer Spaltung des Landes, Krieg und Vertreibung gesprochen. Ethnische Konflikte entstehen im Land und die mächtige jugoslawische Armee schreitet durch das Land – kontrolliert durch Serbien mit dem Traum für ein „Großserbien“ – angeführt von Slobodan Milošević und Radovan Karadžić.
Panzer stehen im Mai 1992 vor Brčko. Meine Eltern feiern gerade den ersten Mai mit ihren Familien. Dieser Tag ist geprägt von der ethnischen Mischung der Familie. Mein Cousin betritt den Garten und spricht vom Krieg. Die Armee steht vor der Stadt – alle sollen sich in Sicherheit bringen. Die Bekannten, Verwandten und Freunde verlassen unser Zuhause in der Stadt.
Die Flucht
Mein serbisch-orthodoxer Onkel mit meiner Mutter und meinem katholischen Onkel
„Ich hatte erst verstanden, dass wir gehen mussten, als ich die Tür unseres Hauses zum Garten aufmachte und kleine Staubwölkchen am Boden sah, die ständig auftauchten und keine Kinder mehr auf den Straßen hörte“, erzählte meine Mutter. Später erfuhr sie, dass das Sniper waren die sich auf die hohen Außengebäude platzierten, um zu zielen.
Meine Mutter und mein Vater lebten mit mir und meiner Schwester in dem Haus unserer (muslimischen) Großeltern. Diese wurden vertrieben und wie fast alle unsere muslimischen Verwandten mussten sie das Haus den Soldaten übergeben. Mein Vater wurde verhaftet und mit anderen muslimischen Männern in die Sporthalle der Stadt gebracht. „Früher spielte ich hier in der Volleyballmanschaft – heute bin ich ein Gefangener“, erinnert er sich nur ungern. „Das schlimmste war, wie Arkan vor mir stand und mich anschaute.“ Arkan – einer der bekanntesten Kriegsverbrecher, Vergewaltiger und Folterer im Krieg in Bosnien, der mit seiner Masse von männlichen Hooligans das Land unsicher machte, tausende Menschen auf dem Gewissen hat und bekannt war für die gewalttätigen und unmenschlichen Vergewaltigungen von jungen muslimischen Mädchen und Frauen.
Mirjana flüchtete ebenso. Obwohl sie nicht in Gefahr war. Sie konnte mit ihrer Schwester in der Stadt bleiben und wäre beschützt gewesen – weil sie serbisch-orthodox war. Doch sie entschied sich anders und begleitete meine Großmutter und meinen Großvater mit uns Kindern. Sie kamen in ein Lager und wussten nicht, was mit ihnen passieren sollte.
Papa, Mama, mein muslimischer Großvater Kemal und ich in Bosnien
Meine Mutter sprach mit vielen Verwandten, die ihr ganzes Hab und Gut, Erinnerungsstücke und Schmuck Zuhause lassen mussten. Sie schrieb sich die Adressen von den Frauen auf und folgte ihren Auftrag, in ihre Häuser zu gehen, um ihre Gegenstände zu holen, die ihnen gehörten. Meine Mutter machte sich auf um die Dinge zu retten, die den Menschen am Herzen lagen. Problematisch konnte nur ihr Nachname werden: Šerifović. Typisch muslimisch – natürlich, den hatte sie ja auch von meinem Vater angenommen. Doch glücklicherweise fand sie ihren alten Ausweis aus der Jugendzeit, wo ihr serbischer Mädchenname abzulesen war. Sie konnte sich bei allen Militärstützpunkten in der Stadt als Serbin ausweisen, ohne aufzufallen.
Österreich – alles neu aufbauen
1992 flüchteten wir nach Österreich und meine Eltern versuchten alles neu aufzubauen. Ohne Deutschkenntnisse, gezwungen ihr Land zu verlassen und ohne zu wissen, es jemals wieder betreten zu dürfen. Und was ist aus den Verwandten geworden, die zurückblieben? Was ist mit den Großeltern, die alt und krank sind? Was passiert mit ihren Geschwistern?
Wie haben sie es geschafft, diese Verzweiflung, dieses Leid, diese Traumata zu verarbeiten und mir und meiner älteren Schwester ein Leben zu ermöglichen, wie jedem anderen Kind in Österreich. Sie waren zielstrebig und leistungsorientiert. Ich durfte nur mit einem Einser nach Hause kommen – alles andere war inakzeptabel. Meine Eltern arbeiteten viel und hart.
Weihnachten mit Weihnachtsbaum – Mama, meine Schwester Adisa und ich
Doch was uns besonders machte im Vergleich zu anderen Kindern, war die Tatsache, dass wir von klein auf mit verschiedenen Religionen aufwuchsen. Wir feierten das muslimische Bajram genauso daheim mit Geschenken und einer Party, wie Weihnachten und Ostern. Aus Respekt vor den islamischen Riten trug meine Mama Kopftuch wenn es ein muslimisches Begräbnis gab. Wir färbten Eier und machten Baklava. Wir küssten die Hand unseres Vaters zum muslimischen Festtag und schmückten den Weihnachtsbaum mit der Mama. Das war natürlich für uns Kinder toll, da wir zu allen Anlässen Geschenke bekamen und so mit der Selbstverständlichkeit aufwachsen durften, dass der Mensch im Vordergrund steht – unabhängig von seiner Religion. Und diese Erfahrung prägt mich bis heute und ist für mich ein Beweis, dass „es“ geht. Wir können alle friedlich zusammenleben ohne auf unsere religiöse Praxis verzichten zu müssen, ohne eine rechte Propaganda, die uns versucht zu spalten und ohne ein politisches Klima, das ausschließlich die Unterschiede unterstreicht und die Gemeinsamkeiten außer Acht lässt.
Meine Mutter, eine Heldin.
Meine Mutter wird diesen Artikel nie zu lesen bekommen. Nach den ganzen Traumata und dem schwierigen Arbeitsbedingungen und Leben in Österreich erkrankte sie an Rheuma, begleitet von einer langjährigen Depression. Sie erkrankte an einer Lungenentzündung, danach folgte ein Schlaganfall und später die Diagnose Lungenkrebs. Halbseitig gelähmt, das Gehirn versagte, das Sprach- und Erinnerungsvermögen schwand dahin.
Am 11. August 2014 erlag sie ihrer schweren Krankheit in der Christian-Doppler-Klinik in Salzburg. Sie wurde in Bosnien begraben, jedoch weigerte sich der serbisch-orthodoxe Pfarrer sie zu beerdigen, da sie sich nie taufen lassen wollte, obwohl sie sich als Christin bezeichnete. Genauso wenig wollte der Vorsitzende der islamischen Glaubensgemeinschaft in Brčko das Begräbnis begleiten, da sie sich nie öffentlich dem Islam bekannt hatte. Wie so oft mussten wir uns selbst organisieren. Meine Mutter wurde am islamischen Friedhof beigesetzt, die Cousine meines Vaters hielt eine beeindruckende Rede über das Leben und die frohe und selbstbestimmte Lebensart meiner Mutter. Alles geschah im engsten Kreise der Familie und Freunde.
Meine Mutter ist eine Heldin für mich, weil sie genau das tat, was sie für richtig empfand: Weder ihre Herkunft, andere Meinungen noch die großen Lebensgefahren konnten sie davon abhalten.
Adis Šerifović
Für Menschenrechte und ein friedliches Zusammenleben lebte sie. Es gäbe so viel über sie zu erzählen. Sie war verantwortlich für einen Aufstand im muslimischen Flüchtlingslager, da eine Frau dort in Panik ausbrach, als sie erfuhr, dass meine Mutter Serbin war. Meine Mutter wurde aus dem Flüchtlingsbus in Bosnien gezerrt und stand mit der Waffe am Kopf vor einem serbischen Soldaten. Davor hatte er mehrere Menschen vor ihren Augen ermordet und verschonte sie, weil er uns Kinder sah wie wir um ihr Leben bangten. Doch sie hat sich durchgesetzt um ihren Weg der Gerechtigkeit zu leben – auch wenn ihr Leben auf dem Spiel stand.
Wir brauchen in unserer Gesellschaft mehr Menschen wie meine Mutter.