Da gibt es jetzt seit einiger Zeit ein Hin- und Herdiskutieren, ob man für AsylwerberInnen und andere MigrantInnen ein Regelwerk für Österreich machen sollte. Die einen meinen, das muss unbedingt her und quasi am Tag der Einreise auswendig gekonnt werden. Die anderen meinen, dass das eine Bevormundung ist und man behandle die Menschen von oben herab, wenn man Verhalten vorschreibt. Zugegeben das sind beides extreme Positionen. Ich halte es da mit der goldenen Mitte. Warum? Weil ich selbst die Erfahrung gemacht habe, wie wichtig es ist, wenn man weiß, wie man sich zu verhalten hat. Und was akzeptiert ist und was nicht.

Ich erinnere mich noch gut an meine Studienzeit in der Türkei. Natürlich liest man über ein Land, seine Kultur und seine Menschen. Was anderes ist es, wenn man dann dort für einige Zeit lebt oder gar für immer dort bleibt.

Also folgende Geschichte, selbst erlebt, unvergessen:

1996. Istanbul. Es ist 8 Uhr morgens. Es wird sicher ein heißer Tag werden. 35 Grad. Ich muss um 9 Uhr in der Uni sein, da beginnt der Sprachkurs. Ich wohne zu dieser Zeit in einer Unterkunft, in der auch andere Studienkollegen und – kolleginnen schlafen. Beim Ausgang treffe ich eine Kollegin aus Deutschland. Sie trägt ein ärmelloses T-Shirt, klar bei dieser Hitze. Ich nicht, ich habe ein normales T-Shirt an. Gemeinsam gehen wir zum Bus. Plaudern. Warten an der Haltestelle, fixe Abfahrtszeiten gab es damals nicht, man wartete bis ein Bus kam. Wir plaudern weiter. Der Bus kommt, wir steigen ein. Der Bus ist bummvoll. Alle Sitzplätze besetzt. Viele stehen, wir auch. Und wir halten uns beide fest, an der Stange, die oben am Gang verläuft. Also haben wir beide, je einen Arm nach oben gestreckt. Wir plaudern weiter. Der Bus kämpft sich ruckelnd durch den Istanbuler Verkehr, die Fahrt wird sicher wieder mehr als eine halbe Stunde betragen. Aber wir haben genügend Gesprächsstoff. Mit dem Handy spielen war damals noch nicht. Irgendwie spüre ich immer mehr Blicke, die auf meine Kollegin und mich gerichtet sind. Die Leute im Bus tuscheln miteinander. Manche zeigen zuerst auf meine Kollegin, dann auf mich. Hmmm komisches Gefühl. Ich versuche hinzuhören, was die Leute reden. Gar nicht so einfach in dem Bus, meine Kollegin, die weiter spricht und irgendwie gar nicht mitkriegt, dass wir gerade der Mittelpunkt des Busses sind. Und irgendwann schnappe ich das Wort „saҫlar“ auf. Haare. Und alles wird mir klar. Unsere Arme, die sich an die obere Stange des Busses strecken. Die verwunderten Blicke zuerst zu meiner Kollegin, dann zu mir. Das Getuschel, manche die den Kopf schütteln. Meine Kollegin hat die Achselhaare nicht rasiert. Lange dunkle Haare wachsen aus der Achselhöhle, die quasi jetzt der Blickpunkt des Busses sind. Und ich werde auch angestarrt. Mein T-Shirt verdeckt die Achselhöhle, aber das Fragezeichen steht im Bus: Hat die andere auch oder hat sie keine?

Das war die längste Busfahrt meines Lebens.

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Für die Menschen in der Türkei ist es ekelig, wenn man sich die Achsel- und Beinhaare nicht rasiert. Gilt auch für die Schamhaare. Bei beiden Geschlechtern. Und viele Männer lassen sich beim Friseur noch zusätzlich die Haare aus den Ohren und der Nase entfernen. Wahlweise mit Wachs oder mit Feuer. Manche Männer rücken beim Friseur auch den Brusthaaren zu Leibe.

Und das war auch der Tag an dem ich meine türkischen Freunde und Freundinnen am Abend zum Tee eingeladen habe mit einer großen Bitte: Ich möchte alles wissen über die wichtigsten Verhaltensregeln. Weil ich nie wieder so eine peinliche Busfahrt erleben wollte.

Und darum bin ich überzeugt davon, dass es hilfreich ist den Menschen in unserem Land ein Regelwerk in die Hand zu drücken. Damit sie sich wohl fühlen, sich nicht blamieren müssen, wissen was erwünscht und was nicht erwünscht ist. Ich arbeite daran und über das Ergebnis werde ich euch informieren.

 

Ungarn zieht weiter Grenzzäune hoch. Die rechtspopulistische Orban-Regierung will das Land abschotten und bekämpft Flüchtlinge entgegen der Genfer Konvention mit Polizeigewalt. Der junge EU-Mitgliedsstaat nimmt es mit den gemeinsamen europäischen Werten nicht so eng. Sicherheit ist in diesen Tagen wieder ein viel geflügeltes Wort, auch im heimischen Wahlkampf. Das österreichische Innenministerium sieht angesichts des Flüchtlingsstroms eine „Gefahr für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung durch die massive Bindung des Polizeipersonals“. Tatsächlich ist die Präsenz von Exekutivbeamten auf Bahnhöfen, in Zügen oder an Grenzen enorm und manchmal schon beinah unheimlich. Die Kontrollen betreffen freilich jene Personen, die versuchen auf „illegalem Weg“ nach Österreich zu gelangen. Wer mit der Bahn von Salzburg nach Innsbruck reist, muss sich dennoch einer Gesichtskontrolle stellen. Wachsame Beamtenaugen verfolgen die Fahrgäste schon auf dem Weg zum Bahnsteig, die Kameras zeichnen ohnehin jede Bewegung auf. Im noch stehenden Zug gilt dann das Vier-Augen-Prinzip. Aber egal. Man nimmt die Überwachung durch den Staat in Kauf, lehnt sich zurück und trinkt seinen Frühstücks-Cappuccino, während sich der Railjet sanft in Gang setzt. Man fühlt sich gut aufgehoben, fast schon sicher. Keine Flüchtlingsfamilie überrascht einem auf der Zugtoilette. Gut, dass die alle nach Deutschland fahren oder doch nicht, weil dorthin ja gar keine Züge mehr gehen. Na ja, dann nehmen sie halt einen anderen Weg. Vielleicht über die Autobahn, aber dort ist ja auch bei der Grenze, die eigentlich keine sein sollte, Schluss. Dafür dürfen sich Frau und Herr Österreicher sicherer fühlen. Doch wer sind denn eigentlich Frau und Herr Österreicher? Da wird es dann schwierig. Obwohl, eigentlich ist die Losung ganz einfach. So einfach wie ein Wahlkampfslogan der FPÖ: „Sicherheit für unsere Bürger“.

Nein, ich möchte kein Bürger der FPÖ sein. Eigentlich von keiner Partei oder Regierung. Schon gar nicht dann, wenn diese die Freiheit mit einem Grenzzaun beschneiden will, mehr Polizei fordert und obendrein eine Sicherheitswache.

Aber Oberösterreichs FPÖ-Chef Manfred Haimbuchner hat ohnehin seine eigene Definition von Sicherheit. Er meint laut Standard-Interview zu wissen, dass „Viele Leute, die jetzt zu uns wollen“, aus der Sicherheit kämen. Welche Sicherheit er damit meint, bleibt Haimbuchner schuldig. Aber es ist gut zu wissen, dass sie eher verhungern könnten als durch eine Fassbombe getroffen zu werden. Na dann kann es ja nicht so schlimm sein. Und bei aller Tragik dürfe man die Vernunft nicht ausblenden. Ansonsten könne unsere Gesellschaft kippen. Bitte wie?

Wer legt denn immer wieder ein Züngelchen auf die Waage? Wer verhindert die Integration in eine Gesellschaft? Wer nährt den Boden von Neid und Missgunst? Wer schützt eine Gesellschaft vor Politikern, die Menschen gegeneinander aufbringen? Die Feindbilder proklamieren, welche Jahrhunderte alt sind und aus dem Osten kommende Zuwanderer kriminalisieren? Wer kontrolliert Medien, die mit diskriminierenden Zuschreibungen ein vorurteilbeladenes Menschenbild zeichnen?

Fragen, die kein Grenzzaun lösen kann. Aber wenn Vernunft mehr Sicherheit im Sinne von mehr Staatsgewalt bedeutet, nein danke schönes freies Österreich!

Ich arbeite am Hauptbahnhof in Salzburg in einem Mobilfunk-Shop. Zur Zeit kommen sehr viele Flüchtlinge zu uns, die verschiedenste Dinge brauchen, um mit ihren Familien, Freunden und Kindern Kontakt zu halten oder, wichtiger, wieder aufzunehmen.

Foto Alfred Aigner

Foto Alfred Aigner

Gestern gab es eine Begebenheit, die mich sehr berührt hat.

Ein junger syrischer Mann kam zu mir in den Shop, weil sein Handy auf der Flucht kaputt ging. Er erzählte mir, dass er mit seiner Frau und seinen zwei Kindern unterwegs war. Sie mussten sich trennen, da die Route die sie gingen, für seine Frau und Kindern zu gefährlich wurde. Er ging die gefährlichere Route, um schneller zu uns zu kommen – in ein sicheres Land. Er hat es geschafft. Er war dann drei Tage in Wien und nun bei uns in Salzburg. Dadurch, dass sein Handy kaputt ging, konnte er nicht mit seiner Frau kommunizieren. Das war das Schlimmste für ihn. Ich kann das verstehen.

Seine Geschichte berührte mich sehr. Darum half ich ihm sein neues Telefon einzurichten, das er bei mir kaufte – etwas, das wir normalerweise nicht tun (können). Noch dazu war die Kommunikation mit ihm nicht so einfach. Er sprach nur Arabisch und ein zweiter Mann übersetzte in gebrochenes Englisch. Ich habe eigentlich keine Ahnung von Viber oder anderen Internet-Telefonie-Apps, aber letztlich schafften wir drei das, auch wenn wir teilweise zu dritt durcheinanderredeten. Nun sollte er wieder Kontakt zu seinen Lieben aufzubauen können. Er hatte einen kleinen, halb verschmierten Karton dabei, auf dem in arabischer Schrift Namen und die dazugehörigen Telefonnummern geschrieben waren. Mit zittrigen Händen wählte er eine Nummer. Er bedankte sich sehr herzlich bei mir und ging aus dem Geschäft. Nach drei Minuten kamen der Mann und sein Übersetzer wieder und erklärten mir, dass es nicht funktioniert. Ich war ehrlich gesagt ein wenig enttäuscht von mir selbst. Immerhin wollte ich ihm ja helfen. Aber der Fehler war schnell gefunden.
Nun hatte er ein Lächeln auf den Lippen und er wählte wieder die Nummer seiner Frau. Ich konnte noch sehen, wie seine Augen glänzten, als er am Telefon zu reden begann. Ich freute mich mit.Bahnhof.salzburg

Fünf Minuten später kamen die beiden ein drittes Mal zur Tür herein. Ich befürchtete, dass doch wieder etwas nicht funktioniert. Ganz im Gegenteil! Ich erfuhr, dass er nun nach zehn langen Tagen endlich wieder mit seiner Frau und seinen Kindern sprechen konnte. Er weiß jetzt, dass es Ihnen soweit gut geht. Auch sie haben es geschafft. Allerdings nur nach Ungarn. Dort sitzen sie jetzt fest und kommen derzeit nicht weiter. Trotzdem sah er mich mit freudigen Augen an und sagte: „Du bist bis jetzt der netteste Österreicher, den ich kennen gelernt habe. Du bist ab jetzt mein Freund.“ In diesem Moment bekam ich vor Freude Gänsehaut. Ich bedankte mich bei ihm und wünschte ihm eine gute sichere Weiterreise, wo auch immer diese hingehen soll.

Es sind so kleine Dinge, die Menschen verbinden.

Jetzt hab ich beim Einräumen der heurigen Traubenmarmelade doch glatt noch ein Glas vom letzten Jahr gefunden. Was tun damit, dass es schneller verbraucht wird? Natürlich einen Kuchen backen. Einen, der einfach ist und schnell geht.

Butterkuchen gehören zu dieser Sorte. Warum der Kuchen so heißt ist mir rätselhaft, denn im Teig ist nur Schlagobers und kein Eckchen Butter. Die findet sich auf dem Belag. Aber der Reihe nach.

Und das braucht man für den Teig:

ku530 dag Mehl

20 dag Staubzucker

Ca. 200 ml Schlagobers

3 Eier

1 Packerl Backpulver

1 Packerl Vanillezucker

Und das für den Belag:

1 Packerl gehobelte Mandeln

5 dag Staubzucker

10 dag Butter

2 Esslöffel Milch

Marmelade nach Gusto

Und so geht’s:

Mehl mit Backpulver versieben und auf die Seite stellen.

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Die übrigen Zutaten in einer Schüssel mit dem Mixer verrühren. Dann nach und nach das Mehl dazu mixen. Den Teig auf ein gefettetes und bemehltes Backblech streichen. Im Backrohr bei ca. 200 Grad 10-12 Minuten backen.

In der Zwischenzeit die Butter schmelzen, den Staubzucker, die Milch und die Mandeln unterrühren.

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Das Backblech herausnehmen. Den halbfertigen Kuchen mit Marmelade bestreichen und dann das Butter-Mandel-Gemisch darübergeben.

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Alles wieder zurück in das Rohr und etwa 15-20 Minuten fertigbacken, bis die Mandeln eine leichte Bräune kriegen.

Der Kuchen eignet sich sehr gut zum stückchenweise einfrieren. Schmeckt nach dem Auftauen wie frisch gebacken :)

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Martin Koch vor seinem Salzburg-Bild

Ausstellungen bei Tagungen sind ja an sich nichts Besonderes. Die Ausstellung in St. Virgil, begleitend zur Down Syndrom Tagung ist etwas Besonderes. Dort habe ich mit dem Künstler Martin Koch, geboren 1982 in Salzburg,  gesprochen. Im Brotberuf arbeitet er seit über 10 Jahren im Kindergarten. Aber er ist auch sehr gerne auf Reisen. Wenn andere ein Fotoalbum machen, malt Martin Koch Bilder, hält die Erinnerung fest. Aber nicht nur das Gesehene. Mit den Farben und seiner besonderen Malweise finden auch die Gefühle Platz und bleiben so bunt und mit klaren Linien im Gedächtnis.

Martin Koch hat mir seine Bilder gezeigt, mir erklärt, auf welche Details ich achten muss. Ich will einige Bilder zeigen:

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Was wäre Salzburg ohne Jedermann? Undenkbar! Und was wäre der Jedermann ohne Tischgesellschaft? Nicht DER Jedermann. Der Künstler schafft eine Tischgesellschaft, die aufs Wesentliche reduziert ist. Der Mammon, die Guten Werke, die Buhlschaft. Die frohen Farben sind Party, manche Gestalt lässt Unheimliches erahnen.

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Aus Kanada hat er eine Erinnerung an den Besuch bei Indianern mitgebracht. Mit Lagerfeuer,  Zelten, Marterpfahl und federgeschmückten Menschen. Aber halt, was schiebt da die alte weißhaarige Indianerin im linken unteren Eck vor sich her? Ja, eine Gehhilfe!

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Oder habt ihr den Nil schon einmal in so einem wunderschönen Blau gesehen. Mit dem alten Nilschiff, das Segel gehisst. Und am Ufer die Pyramiden, wo schon die Kamelführer auf die zahlungswilligen Touristen warten. Und ist er etwa in einen Sandsturm geraten?

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Und an der Ostsee war Martin Koch auch. Dort hat er die berühmten Kegelrobben gesehen.  Wo er war dürfte es keine Strandkörbe gegeben haben. Denn zwischen Robben und Meer sind fünf klassische Liegestühle aufgestellt. Ob der Künstler auf einem gelegen ist?

Und wer jetzt neugierig geworden ist kann noch bis 13. November Kochs Werke und die seiner KünstlerkollegInnen in St. Virgil bewundern.

Ahnen- und Familienforschung ist im Trend der Zeit. Was wenn aber jemand in seinem 8. oder neunten Lebensjahr damit durch neugierige Fragen begonnen hat? Und viele Familienangehörige miteinbezieht? Und damit auch aneckt? Dadurch an künstlerischer Kraft gewinnt? Dann ist es Friedemann Derschmidt. Aber überlassen wir ihm selbst das Wort und fragen ihn, wie es begonnen hat, ob es ein ausschlaggebendes Erlebnis gab?

Friedemann Derschmidt:

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Friedemann Derschmidt

Als etwa acht- oder neunjähriges Kind stand ich vor der Stammtafel in der Wohnung meiner Großeltern. Mir fiel natürlich als Besonderheit auf, dass da meine Großmutter und ihre acht Geschwister in sehr eigentümlicher Weise abgebildet waren. Jede Person war einmal von vorne, einmal im Profil und einmal im Halbprofil dargestellt. Das war erstaunlich – vor allem aber bemerkte ich, dass bei einem, nämlich dem Zwillingsbruder meiner Großmutter, nur eines dieser drei Bilder vorhanden war. Das regte mich an, zu fragen: „Großmutti, warum haben hier alle drei Bilder, nur der hier hat nur eines?“ „Weißt du, die anderen beiden Bilder haben wir abgenommen, das war nach dem Krieg zu gefährlich.“ „… aber warum gefährlich?“ „Da hatte mein Bruder eine SS-Uniform an.“ „Aha …“ (Damals wusste ich nicht, was das bedeutete.) „… aber warum kenn′ ich den nicht? Die anderen kenn′ ich ja mehr oder weniger.“ „Weißt du, der ist damals in Russland erschossen worden“, und nach einer kurzen Pause: „Das war wahrscheinlich auch besser so.“

Bin ich wer Besonderer?

In den späten 1960er- und den frühen 1970er-Jahren wurde ich in einer bekannten oberösterreichischen Großfamilie in dem Bewusstsein erzogen, etwas „Besonderes“ zu sein. Worin diese Besonderheit bestehen sollte, war unklar. Über die Jahre und nicht ohne die Hilfe einiger kritischer Mitglieder der Familie fand ich heraus, dass in der Großfamilie ein sehr komplexes Gespinst aus Mythen, Legenden und Lügen über die Vergangenheit und die Generationen der Großeltern und Urgroßeltern gewoben worden war. Ich erkannte, dass auch Menschen, die mir emotional sehr nahestanden, aktiv an dieser Selbstverherrlichung der Großfamilie teilhatten und teilweise daran bis heute festhalten. Innerhalb dieses Kokons aus Geschichten wurde mir schrittweise immer klarer, dass nicht wenige Familienmitglieder aktive und begeisterte Nazis gewesen waren. Von diesen waren viele NSDAP-Mitglieder, einige sogar hohe Offiziere bei SS und SA gewesen und manche hatten während des Dritten Reiches durchaus einflussreiche Positionen in allen Sparten der Gesellschaft bekleidet.

fd4Ich begann Interviews mit Verwandten zu führen und eine ungeheure Fülle an Material zu sammeln. Das war der Zeitpunkt, der mich zu einer Art Familienchronisten machte. Dennoch hatte ich vorläufig nicht die geringste Ahnung, was ich mit all der Information anstellen sollte. In dem, was ich als „das System der Familie“ bezeichne, spielte mein Urgroßvater offensichtlich eine zentrale Rolle. Er war Arzt und Universitätsprofessor und ein nicht unbekannter Vertreter der Eugenik in Österreich. Seinen Studierenden bläute er ein, dass Familien- und Ahnenforschung ein wichtiges Werkzeug der – wie es damals hieß – „Rassenforschung“ sei und dass es von großer Wichtigkeit sei, viele Kinder zu zeugen und aufzuziehen. Er war Gründungsmitglied des „Reichsbundes der Kinderreichen“ und ging selbst mit bestem Beispiel voran. Dies wurde in der Folge zum Angelpunkt meines Projektes. Selbst heute noch fühlt sich eine Mehrzahl meiner Verwandten auf die eine oder andere Weise der Idee der Großfamilie verpflichtet. Gemeinsam mit meinem Cousin Eckhart Derschmidt veröffentlichte ich im Oktober 2010 eine Internetplattform auf der Basis von Web 2.0 und forderte die Familienmitglieder auf, sich daran zu beteiligen. Der Text der Startseite war zugegeben sehr provokant formuliert und verfehlte daher nicht seine Wirkung. Er lautete sinngemäß so: „Hat der Eugeniker Dr. Heinrich Reichel zu Beginn des 20. Jahrhunderts sein ganz persönliches Vererbungsexperiment gestartet? Schließlich hat er neun Kinder, 36 Enkelkinder und über 80 Urenkel usw. Sind wir das Ergebnis eines genetischen Versuches? Lasst uns dieses Experiment evaluieren …“

Die Spiegelung des Urgroßvaters

Ich versprach den Familienmitgliedern (1), die Internetseite zwei Jahre lang geschlossen zu führen (2010–2012). Von der Gesamtzahl aller Familienmitglieder (kleine Kinder und alte Leute, die keinen Computer benützen, mitgezählt) traten im Zuge eines sehr schwierigen und schmerzhaften Prozesses bis dato etwa ein Drittel als User bei.

Ironischerweise wurde ich zu einer Art Gegenspieler meines Urgroßvaters. Wie in einer Spiegelung tue ich eigentlich jetzt genau das, was er verlangte: nämlich Familienforschung. Im Gegensatz zu ihm interessiert mich die genetische Weitergabe innerhalb des von den Eugenikern so genannten „Erbstroms“ nicht im Geringsten. Ich versuche hingegen, die Weitergabe von Weltanschauungen, Ideologie und politischen Haltungen über sechs Generationen in dieser bürgerlichen Großfamilie zu thematisieren. Daraufhin begann ich, HistorikerInnen, SoziologInnen, PsychologInnen und andere ExpertInnen zu kontaktieren. Ich lud sie ein, unserem Projektbeirat beizutreten. In der Folge wurde die Projektdatenbank durch eine Vielzahl von Dokumenten aus Archiven, theoretischen Texten und anderen Materialien angereichert.

Im Zusammenhang mit einem anderen meiner Projekte war ich im Jahr 2011 zu einem Vortrag nach Leipzig eingeladen. Beim Spaziergang durch die Stadt sprang mir bei der Gedenkstätte für die Große Synagoge folgende Inschrift ins Auge: „Hier wurde am 9. November 1938 die große Synagoge der israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig durch Brandstiftung faschistischer Horden zerstört. Vergesst es nicht.“ Ich fragte meinen Begleiter, wo denn diese „faschistischen Horden“ hergekommen und wohin sie danach wieder verschwunden seien. Für mich war diese Inschrift insofern sehr erhellend, weil sie etwas Grundlegendes über den Umgang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus in vielen Bereichen und über sehr lange Zeit aussagt.

fd5Für dieses Projekt ist es von großer Wichtigkeit, zu verstehen, dass die Nazis nicht wie eine Horde Wahnsinniger aus dem Nichts kamen und wieder darin verschwanden. Sie waren auch keine von außen auftauchenden „Anderen“, sondern kamen aus der Mitte der Gesellschaft: Die eigenen Väter und Mütter, Großeltern, Tanten und Onkel waren „die Nazis“. Wenn man einen Schritt zurücktut und mit diesem größeren Blickwinkel auch das 19. Jahrhundert mitbetrachtet, kann man am konkreten Beispiel dieser bürgerlichen Großfamilie gut aufzeigen, wie sich die vielen, oft sehr unseligen Wechselwirkungen zwischen Nationalismus, Jugendbewegung, Erneuerungs- und Reinheitsfantasien und nicht zuletzt moderner Wissenschaft usw. ergeben haben müssen.

Nicht einzigartig

Diese spezifische Familie ist diesbezüglich alles andere als besonders oder einzigartig. Das Projekt „Reichel komplex“ kann vielmehr als Modell für viele österreichische, deutsche und andere europäische Familien dienen, die in den Holocaust verwickelt waren. Für die jetzt lebenden Generationen geht es vermutlich weniger um Schuld als um Scham. Die Scham muss sich auch nicht notwendigerweise auf die (möglichen) Taten der eigenen Eltern oder Großeltern beziehen. Ich habe mittlerweile den Eindruck gewonnen, dass es sehr oft auch um die Frage geht, wie es sein kann, dass „mensch“ ein ganzes Leben lang nicht gefragt hat und nicht wissen wollte; oder dass sogenannte „Werte“ unhinterfragt weitergetragen und gepflegt wurden, die man dem österreichischen Nachkriegsnarrativ (2) konform in ihrer ideologischen Verfänglichkeit bagatellisierte oder für harmlos hielt und teilweise immer noch hält. Auch wenn ich in meine mütterliche Herkunftsfamilie blicke, finde ich dort weder NS-Opfer noch Widerstand, auch dort finden sich Fotos mit HJ-Uniformen, NSDAP-Mitgliedschaften, ein Gemisch aus völkisch-jugendbewegten Ideen, in diesem Fall kombiniert mit ausgeprägtem Katholizismus. Ja, selbst einen Wissenschafter hat die Familie Klebel zu bieten: Dr. Ernst Klebel (3), einen Historiker, der – man forsche nach – aus irgendeinem Grund nach 1945 einen Karriereknick gewärtigen musste. Der Briefbomber Franz Fuchs zitierte in seinen Bekennerbriefen ausführlich aus dessen Forschungen zu den „Bajuwaren“. Ich selbst jedenfalls werde trotzdem immer Teil dieses Systems bleiben, ob ich will oder nicht. Da gibt es kein Entkommen…

…wird fortgesetzt

Friedemann Derschmidts Buch gibt es hier: Sag es Du deinem Kinde

Ein besonderes Projekt ist das „Zwei Familien Archiv“: Two Family Archives

Anmerkungen:

(1) Ich bin dabei von meinem Urgroßvater und seinen beiden Brüdern Carl Anton und Friedrich ausgegangen. Berücksichtigt man deren unmittelbare Nachfahren inklusive ihrer PartnerInnen, sprechen wir von etwa 350 Personen.

(2) Siehe Margit Reiters Beitrag „Framework. Postnationalsozialistische Familien(re)konstruktionen im österreichischen Kontext“ in diesem Buch.

(3) Vgl. Ziegler, Wolfram. Ernst Klebel (1896–1961) – Facetten einer österreichischen Historikerkarriere. In: Hruza, Karel (Hg.). Österreichische Historiker – Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 2 (S. 489–522). Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2012.