So viele erschütternde Bilder in den letzten Tagen: im Lastwagen erstickte Menschen, an den Strand gespülte Leichen, verzweifelte Flüchtlinge am Bahnhof in Budapest. Das Entsetzen darüber ist groß und die Hilfsbereitschaft der Menschen wächst. Doch einige haben weiterhin nichts anderes als Hass und Gewalt für die Flüchtlinge übrig.

Darum beschloss ein Musiklehrer, den Ultra-Rechten eine lautstarke Botschaft entgegenzuschleudern – und zwar den 22 Jahre alten Song „Schrei nach Liebe“ der Punk-Band DIE ÄRZTE. So startete er die Aktion Arschloch, benannt nach der bekannten Textzeile des Songs „Schrei nach Liebe“, die schlicht und eingängig einfach „Arschloch, Arschloch, Arschloch“ lautet. Die Ärzte veröffentlichten den Song 1993, als Asylbewerberheime in Rostock brannten. Jetzt, wo wieder Asylquartiere die Zielscheibe von Flüchtlingshassern sind, war es naheliegend, gerade diesen Song auszuwählen.

Die Absicht der Aktion Arschloch. „Schrei der Liebe“ soll auf Platz 1 der deutschen Charts – als Zeichen gegen die Rechte Hetze und Gewalt. Die Ärzte begrüßen die Aktion, wollen aber nichts daran verdienen. Es wird alles an die Organisation Pro Asyl gespendet – und zwar auch die Erlöse durch Airplay.

Die Aktion ist ein voller Erfolg. Es gibt viel Zustimmung von der Presse und auch die Verkäufe von „Schrei nach Liebe“ sind in die Höhe geschnellt, auch in der Schweiz, in Österreich und Luxemburg.

Tadellose Aktion? Nicht für alle.
Es gibt auch herbe Kritik an der Aktion. Schindluder.net, sonst spezialisiert darauf, uns mit lustigen Bildchen und Sprüchen zu erfreuen, nennt das Ganze die „Aktion der Arschlöcher“.

[Sorry, den folgenden Absatz musste ich streichen. Hier hab ich den Sin der Aussage von Schindluder.net völlig entstellt – ohne Absicht, einfach durch Schlampigkeit. Ich entschuldige mich.]
Die Argumente gegen die Aktion Arschloch sind einerseits subjektiv:
Es ist nicht cool, […] „Schrei nach Liebe“ anzuhören […] macht auch definitiv keinen Spaß.
Das mag für manche stimmen. Ich mag den Song und singe gerne lauthals mit. Und viele andere offenbar auch.

Andere Die Argumente sind finde ich naiv:
Man muss immer, immer, immer, immer, immer und immer wieder mit Flüchtlingsgegnern reden und ihnen die Ängste nehmen. Nur wenn sie verstehen und sehen, dass Flüchtlinge verdammt arme und hilfsbedürftige Menschen sind, dann überlegen sie es sich vielleicht zweimal ob sie ein Heim anzünden.
Wie bitte? Das ist idealistisch aber nicht realistisch. Rassisten sind für Argumente und das Leid der anderen nicht offen. Sie sind Hasser, keine Skeptiker und keine „besorgten Bürger“. Menschen mit Ängsten und Sorgen zünden nichts an, verbreiten keine Gewalt und urinieren nicht auf Flüchtlingskinder.

Ist es ok, Ultra-Rechte als Arschlöcher zu bezeichnen?
Es ist sicher nicht der feine Ton. Argumente gehen den Rechten am, ‘Tschuldigung, Arsch vorbei. Und ob man sie Nazi, Pack oder sonstwas nennt, ist ihnen auch egal. Gerade das ist für alle normalen, empathischen Menschen so frustrierend – Argumente und Beschimpfungen bringen nichts. Aber: Man kann sich so seiner Frustration einfach Luft machen und es rausschreien: Arschloch!

[Hier zur Auflockerung das Lyrics-Video – bitte weiter unten weiterlesen]

Freilich, ist es ein Schrei der Ohnmacht, doch wenn viele ihn gemeinsam schreien, dann fühlt man sich nicht allein. Dann weiß man, dass es viel Menschlichkeit gibt und es sich lohnt, den Rechten gegenzuhalten.

Flüchtlingsjunge_Aylan_übermalt

„Wir TRAUERN NICHT wir FEIERN ES“ Welche Unmenschen denken so? Arschlöcher?

Dieses Gefühl tut auch einfach mal gut. Besonders wenn die Flüchtlingsgegner sich von ihrer hässlichsten und unmenschlichsten Seite zeigen. Zum Bild des 3-jährigen ertrunkenen Aylan, das dieser Tage wieder viele Menschen bewegt hat, tauchte auf Facebook dieses Posting auf:

Werden solche Unmenschen durch Argumente klüger? Nein. Sorry, aber in solchen Augenblicken fällt mir auch nichts anderes ein, als laut zu schreien: Arschloch! Arschloch! Arschloch!

 

 

Bosnien – ich komme wieder“, habe ich vor nicht allzu langer Zeit versprochen [hier nachzulesen]. Jetzt hat mich der Weg tatsächlich wieder hier hergeführt. Meine erste Station: Sarajevo.

Ich betrete die alte serbisch-orthoxe Kirche von Sarajevo. In dem Augenblick beginnt der Muezzin mit seinem Ruf zum Mittagsgebet. In der Kirche vermischt sich der Ruf mit den leisen christlichen Gesängen, die vom Tonband kommen. Ich setze mich und lasse mich von diesem Moment tragen. Ich blicke auf, vorne steht eine Frau, versunken ins Gebet. Die Ikonen blicken stumm herunter, wie schon seit Jahrhunderten. Ein Mann betritt mit seiner kleinen Tochter am Arm die Kirche. Mit einem liebevollen „Haydi!“ ermutigt er das Kind das erste Bild zu küssen. Fasziniert schaue ich zu, wie er mit seiner Tochter reihum alle Bilder und Reliquien küsst. Ein Vater-Tochter Augenblick, der nur den beiden gehört. Dann verlassen sie die Kirche wieder, vielleicht auf dem Weg nach Hause.

In der serbisch-orthodoxen Kirche

In der serbisch-orthodoxen Kirche

Die Frau beendet ihr Gebet, auch der Muezzin ist nicht mehr zu hören. Ich zünde noch zwei Kerzen an, eine für die Lebenden, eine für die Toten, so habe ich es in der rumänisch-orthodoxen Kirche gelernt, ein schönes Ritual. Jetzt erst fällt mir auf, wie laut der Straßenlärm von draußen hereindringt.

Kolay gelsin!

Kolay gelsin!

Die Altstadt von Sarajevo ist geteilt, ersichtlich. Auf der Straße steht: Sarajevo- Meeting of Cultures. Die Touristen machen Posen, fotografieren sich gegenseitig und zeigen nach Westen und nach Osten. Hier der neuere Teil, mit europäischen Häusern, die sich von Wien bis Istanbul finden. Dort das alte Sarajevo, osmanisch geprägt. Mit niedrigen Häusern, Bazaren, Werkstätten und Wasserpfeifenlokalen in schönen Innenhöfen. Es ist ein entspanntes Miteinander. Ich gehe durch die Straße der Kupferschmiede, ein altehrwürdiges Handwerk. Männer schlagen das Metall zu Tellern, Kannen und Kühlschrankmagneten. Mir rutscht dauernd ein „Kolay gelsin!“ heraus. Das sagt man in der Türkei zu jemandem, der arbeitet, wenn man vorbeigeht. Aber ich bin in Bosnien, die Männer schauen mich nur lächelnd an, verstehen mich natürlich nicht. Aber ich kann nicht anders, ich bewege mich durch das Viertel wie in Istanbul. Es ist noch ganz viel Orient hier in Sarajevo!

Die Rose von Sarajevo

Die Rose von Sarajevo

Auch die nahe Vergangenheit ist noch immer präsent. An manchen Häusern finden sich die Einschusslöcher aus der über dreijährigen Belagerung Sarajevos. Bei der Stadtführung ist es immer wieder Thema. Auf der Straße findet sich an vielen Orten die „Rose Sarajevos“, die an die tausenden Toten erinnert. Man kann nicht einfach vorbeiflanieren, die Erinnerung ist überall. Ich gehe in die Ausstellung Srebrenica Memorial im Haus direkt neben der katholischen Kathedrale, vor der eine Statue des gebeugten Johannes Paul II steht. Im dritten Stock empfangen mich die Bilder der Toten. Ein Film über die Belagerung der Stadt läuft. Rennende Menschen, Schüsse von den umliegenden Bergen, Schreie von Kindern. Das bosnische Sinfonieorchester, das in einer Tiefgarage gegen den Krieg anspielt. Die Miss Wahl 1993, die Frauen in Badeanzügen halten ein Transparent hoch: Don’t let them kill us!

Ausstellung „Srebrenica Memorial“

Ausstellung „Srebrenica Memorial“

Und immer wieder Menschen, die vom täglichen Überlebenskampf berichten, dem Brot- und Wasserholen, das nur unter Lebensgefahr möglich ist. Und Kinder, die sich in ein zerschossenes Auto setzen und „Wir fahren ans Meer“ spielen. Das ist Krieg.
Als ich aus der Ausstellung hinauskomme, strahlt die Sonne, die Menschen gehen ihrem Alltag nach. In Sarajevo herrscht jetzt Frieden. Aber nicht in Aleppo, nicht in Mossul, nicht in Kabul. Der Film ist nicht Vergangenheit, sondern grausame Gegenwart.

von Elisabeth Kaplan

Das war er, der Eurovision Song Contest 2015! Ein höchst vergnüglicher Abend mit Freunden vorm 65-Zoll-Bildschirm mit 5.1 Surround und ausgestattet mit genügend Chips und Bier. Man kann zwar nicht mehr so ausgelassen jeden einzelnen Teilnehmer zur Schnecke machen, weil die Qualität der Beiträge leider in den letzten Jahren so stark gestiegen ist. Dafür kann man sich an grandiosen Performances und umwerfenden Bühnenshows erfreuen. Österreich hat sich hier wirklich von seiner besten Seite gezeigt, und es war eine tadellose Show – abgesehen von ein paar Pannen bei der Punkteverkündung. Na ja, nur die Moderationen fand ich manchmal um eine Spur peinlicher als sonst (das lag aber weniger an den drei Damen als an den Schreibern). Hey, über irgendetwas werd ich ja wohl noch motzen dürfen!

Wer ist das eigentlich?
Der 28-jährige Måns Zelmerlöw ist also der Sieger des Abends. Und er hat damit den Song Contest für 2016 nach Schweden geholt. Zelmerlöw wurde erstmals in Schweden bekannt, als er vor 10 Jahren an der schwedischen Castingshow „Idol“ teilnahm, bei der er letztendlich Fünfter wurde. Er wollte schon länger zum Song Contest und hat 2007 und 2009 am schwedischen Vorentscheid teilgenommen. Danach war er nur als Moderator und auch Songwriter an den Vorentscheiden involviert. Doch 2015 stellte er sich wieder selbst auf die Bühne. Bei seinem dritten Anlauf hatte er nun endlich den richtigen Song im Gepäck: Er durfte sein Land mit „Heroes“ beim Song Contest vertreten und wurde prompt zum Eurovisionssieger – mit der dritthöchsten Punktezahl aller Zeiten.

Eigentlich dürfen ja nur 6 Personen auf der ESC-Bühne stehen.  Ein Regelverstoß?

Eigentlich dürfen ja nur 6 Personen auf der ESC-Bühne stehen. Ein Regelverstoß?

In einer eigenen Liga
Die eindrucksvolle Bühnenshow, unterstützt von animierten Strichmännchen, hatte den Wow-Faktor. Sie lenkte aber nicht ab von seiner eigenen großartigen Performance. Wo sich viele Teilnehmer mit der Intonation plagten, ließ sich Zelmerlöw nicht beirren. Er klang einfach von vorne bis hinten selbstbewusst und selbstsicher – obwohl der Song sowohl hohe, als auch tiefe, und sowohl leise als auch powervolle Stellen hatte. Und mit seinem vielleicht süßesten Lächeln in Song Contest-Geschichte hat er schmachtende Seufzer hervorgerufen. Zumindest in unserer kleinen Runde.

Warum der Song überzeugt
„Heroes“ stammt von drei schwedischen Songwritern, die in den letzten Jahren bei den schwedischen Anwärtern schon oft mitgemischt haben: Linnea Deb, Joy Deb und Anton Hård af Segerstad. Dieses Dreigespann hat einen fetten Song geschrieben. Sein Refrain bleibt schon nach dem ersten Mal Hören fast penetrant im Gedächtnis.
Die Songwriter haben das hinbekommen, indem sie das Prinzip der Imitation angewendet haben. Die Stelle, die sich nämlich im Hirn so festkrallt („Heroes / Wooh“), besteht aus einer kurzen Phrase, die sich einfach ein einer tieferen Lage wiederholt (siehe Notenbeispiel).
Heroes_Noten
Wer aufmerksam zuhört, wird feststellen, dass dieses Prinzip auch in der Strophe angewendet wird. Imitation bewirkt, dass das Hirn nicht so viele neue Informationen bearbeiten muss, weil es die Phrase ja wiedererkennt. Und deshalb kann man sofort mitsingen.

Fazit:
Lob also an das ganze schwedische Team: das war Pop der höchsten Klasse. Ein Vergnügen für die Augen und Ohren. Ein würdiger Sieger.

ein Beitrag von Heinz Schoibl

Notreisender in Salzburg zartbitterGanz pragmatisch denke ich mir zur Frage der Notreisenden, die in Ermangelung von Angeboten der Notversorgung unter Brücken, in Parks oder im Hotel Abbruch (wild) kampieren, dass hier keinesfalls die Kampierverordnung der Stadt Salzburg zur Anwendung kommen darf und dass Vertreibung total unsinnig ist. Schutz vor Unbill und Gefahr (z.B. durch Hochwasser) ja! Aber doch nicht in Form einer Vertreibung ohne Ziel, Herz oder Verstand. Damit kommt es bestenfalls zu einer Verlagerung des Problems an einen anderen mehr oder minder öffentlichen Ort, an dem innerhalb kürzester Zeit wieder eine „Gefährdung der öffentlichen Ordnung“ festgestellt werden kann, erneut Klagen der AnrainerInnen auftreten und aufs Neue der Ruf nach – ja, wonach wohl! – ach ja: Vertreibung ertönt, dem die Stadt im Auftrag zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung nachkommen muss.

Vor dem Hintergrund der x-fachen Vertreibungserfahrung (ist das eigentlich in irgendeiner Form dokumentiert?) sollten wir wohl einmal so weit sein und uns wirklich eingehendere Gedanken über die zugrundeliegende Sachlage sowie über adäquatere Strategien und Handlungsoptionen machen.

Die Ausgangslage
Faktum ist, dass es keine bedarfsdeckenden Vorsorgen für die Basisversorgung der anwesenden Notreisenden gibt. Die 14-Tage-Regel in der Arche Nord / Süd ist bestenfalls eine Notlösung, aber eigentlich eben keine Lösung. Die Notreisenden können es sich schlicht nicht leisten, bereits nach zwei Wochen – ohne auch nur halbwegs reguläre Verdienstmöglichkeiten während dieser Zeit – wieder zurück in die Herkunftsregionen zu fahren. Bis dahin haben sie bestenfalls die Fahrtkosten zusammengebettelt! So oder so wird den meisten nichts anderes übrig bleiben, als über einen längeren Zeitraum in Salzburg zu bleiben, zumal sich ihre Notreise sonst schlichtweg nicht rechnet. Unabhängig davon, ob sie hier Angebote der Basisversorgung vorfinden, letztlich auch ungeachtet der Beeinträchtigungen und Gefährdungen, denen sie hier aufgrund von Kälte, Nässe, Frost und Unwirtlichkeit ausgesetzt sind, wird die Dauer ihres Aufenthalts in Salzburg in keinem Verhältnis dazu stehen, wie lange sie auf Not- und Basisversorgung zählen und diese nützen können. Für sie steht im Vordergrund, finanzielle Mittel zu lukrieren. Für ihr Überleben, um ihre Angehörigen versorgen und pflegen zu können, um es sich leisten zu können, wieder nach Hause zu fahren, sind sie darauf angewiesen, in Salzburg zu bleiben und – so gut es eben geht – mit dieser belastenden Situation umzugehen.

Zwangsweise werden sie sich nach der Zeit, in der sie im Notquartier unterschlüpfen und Basisversorgung nützen konnten, einen Unterschlupf suchen: unter Brücken, im Hotel Abbruch, im Gebüsch und unter Bäumen mit den bekannten Folgen:

Sie stören die öffentliche Ordnung, sie verdrecken das Umfeld, sie verschrecken (nicht nur) Minderjährige, die auf ihrem Schulweg an diesen „Horden“ vorbei müssen, und provozieren damit (ob sie dies wollen oder nicht) den Unmut bis Zorn von AnrainerInnen.

  • Bis sie eben vertrieben werden
  • bis sie erneut mit Gittern ferngehalten werden
  • und ganz einfach eben wieder woanders unterschlüpfen.

 

Strategischer Rahmen
Option I:    „Muddling through!“ (oder: the same procedure than every month)
Aktuell wird aus der Not des Nicht-Besser-Wissens heraus die Option eingeschlagen, jeweils zu warten, bis es zu AnrainerInnen-Protesten kommt. Nach einer Phase des Nicht-Hinschauens und der Nicht-Intervention folgt eine kleine Vertreibung ins Nirgendwohin. Und die Notreisenden werden in der Folge zwangläufig, weil sie gar nicht anders können, woanders ihren Unterschlupf aufschlagen und – bestenfalls etwas zeitversetzt – beginnt alles wieder von vorne. Das ist unbefriedigend, mühsam und belastend für alle Beteiligten!

 

Option II:   „Modell Favela“
Die naheliegende aber meines Erachtens äußerst gefährliche Option, wie zum Beispiel zuletzt in Salzburg-Süd modellhaft vorgestellt: Wir lassen zu, dass sich die Notreisenden irgendwo am Stadtrand eine illegale Siedlung aus Baracken, Zelten, Kartons etc. zusammenbasteln. Wir schauen zu, wie ein Slum oder eine Favela am Stadtrand entsteht und warten, bis es wuchert – mit oder ohne Mobil-Toilette ist das letztlich eine Kopie davon, was in den vergangenen Jahrzehnten in Brasov, Arges oder anderen Bezirken Rumäniens, in vielen Städten Süd-Ost-Europas (vgl. etwa Stolipinowo / Bulgarien) passiert ist bzw. immer noch passiert. Diese Vorstellung ist nicht nur unvorstellbar, sondern höchst unbefriedigend, weil sich unter diesen Vorzeichen Armut, Elend und Ausgrenzung nachhaltig verfestigen.

 

Option III: „Aktiv begleitete und unterstützte Duldung von Selbstorganisation inkl. Infrastruktur“
Solange die Angebote der Basisversorgung nicht in Deckung mit dem tatsächlichen Bedarf (so viele wie da sind, so lange, wie sie da sein müssen, damit es sich rechnet) stehen, oder gebracht werden können, sehe ich nur die Chance einer konzertierten Aktion und in einer prekaristischen und zeitlich jeweils befristeten Duldung des Aufenthalts einer Gruppe von Notreisenden an Örtlichkeiten, die ihren Bedürfnissen nach Schutz vor der Witterung zumindest halbwegs entsprechen. Das kann z.B. im Kontext eines leerstehenden Gebäudes oder eines Verschlages sein, der mit einer mobilen Hygieneeinheit (Toilette und Waschraum), sowie eventuell mit einem kleinen Kiosk mit Kochgelegenheit ausgestattet ist.

Ergänzend dazu benötigt diese Lösung eine Begleitung durch StreetworkerInnen, deren wesentliche Funktion darin liegt, zum einen Modelle und Strukturen der Selbstorganisation zu fördern und zu unterstützen und zum anderen eine konzertierte Gemeinwesenarbeit und die Unterstützung der AnrainerInnen im Wohnumfeld zu gewährleisten.

Im Interesse öffentlicher Ordnung und subjektiver Sicherheitsgefühle steht hier natürlich im Raum, dass AnrainerInnen eben nicht auf sich gestellt bleiben und sie keine Angst haben sollten. Sondern dass ihnen – zumindest indirekt – auch ein konkreter Nutzen daraus entstehen kann und dass sie sich mit dieser etwas auffälligen Nachbarschaft, wenn schon nicht anfreunden, dann zumindest arrangieren können.

 

Stolipinovo – Tagebuch einer Reise

von Josef P. Mautner

Stolipinovo_landscape 4Stolipinovo ist ein symbolischer und ein realer Ort zugleich. Sein Name steht für die Lebensverhältnisse einer der größten ethnischen Minderheiten Europas. Die Armut seiner BewohnerInnen scheint absolut, ihre Ausgrenzung vollständig. Stolipinovo ist ein Wohnviertel der Stadt Plovdiv im Süden Bulgariens und eines der größten Stadtviertel in Südosteuropa, das ausschließlich von Roma bewohnt wird.

Plovdiv ist mit knapp 377.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Landes nach Sofia. Sie ist das Verwaltungszentrum der Gemeinde sowie der gleichnamigen Provinz. Viele Städte in Bulgarien haben mehrere Viertel, die ausschließlich von Angehörigen der ethnischen Minderheit der Roma besiedelt sind. In Plovdiv sind es vier, und Stolipinovo ist eines von ihnen. Dort leben geschätzte 55.000 EinwohnerInnen. Eine genaue Zahl lässt sich nicht ermitteln, weil die meisten von ihnen durch das offizielle Meldesystem nicht erfasst sind. Nur eine Minderheit der EinwohnerInnen von Stolipinovo sieht sich selber als christlich, der größte Teil davon sind Protestanten, die einer der freikirchlichen Gemeinden im Stadtteil angehören. Die Mehrheit bilden türkischsprachige Muslime, wovon wiederum die meisten sich als „Türken“ bezeichnen.
Die soziale Situation der BewohnerInnen von Stolipinovo ist katastrophal. Sie leiden unter absoluter Armut, Mangelernährung, einer schlechten Gesundheitssituation (die Verbreitung von Aids und TBC schreitet voran), circa 95 Prozent Arbeitslosigkeit, schlechtem Zugang zu schulischer und beruflicher Bildung, Ghettoisierung und massiver Diskriminierung aufgrund des herrschenden antiziganistischen Rassismus in der bulgarischen Gesellschaft.

Mit drei KollegInnen aus der „Plattform für Menschenrechte Salzburg“ besuchte ich an vier Tagen im November 2014 unsere Freunde von der ROMA Foundation in Stolipinovo. Der folgende Text ist ein Reisetagebuch, das abrissartig und unvollständig meine Erfahrungen und Eindrücke von diesem Besuch wiedergibt. Grund für die Reise war der Aufbau einer Partnerschaft mit der „Foundation for Regional Development ROMA Stolipinovo“. Die Plattform für Menschenrechte arbeitet seit September 2014 mit den KollegInnen in Stolipinovo zusammen.

Die Foundation ist eine Selbstorganisation von Roma, die in Stolipinovo sowie in den Vierteln und Dörfern im Bezirk Plovdiv leben. Sie entwickelt Projekte, die die Lebensbedingungen der Roma sowie ihre soziale und gesellschaftliche Situation verbessern sollen, und setzt sie auch selbst um. Die Partnerschaft zwischen Plattform für Menschenrechte und ROMA-Foundation hat Austausch und gegenseitige Unterstützung in der regionalen Menschenrechtsarbeit zum Ziel.

 

Freitag, 14. November 2014:

Wir landen am Flughafen Sofia. Ein unerwartet kleiner, ein Provinzflughafen. Andreas Kunz, unser Führer und Dolmetscher, der den Kontakt zur ROMA Foundation vermittelt hat, wartet in der Halle. Er führt uns zum Taxi. Ein alter Kleinbus. Der Fahrer wohnt in Stolipinovo. Er erzählt, dass er Männer aus Stolipinovo zur Saisonarbeit nach Spanien bringt. Die Roma Bulgariens sind in ganz Europa unterwegs auf der Suche nach Arbeit: Billige Arbeitskräfte, sie machen fast alles, zu fast allen Bedingungen. Nach einer zweistündigen Fahrt kommen wir am Nachmittag in Plovdiv an. Regen. Einchecken im Hotel; vorher noch ein Abstecher ins „Zuckerviertel“, eine der anderen Roma-Siedlungen in Plovdiv: ineinander geschachtelte Häuser, teilweise im Zustand von Abbruchhäusern, teilweise Ruinen. Die Straße ist so desolat, dass unser Bus nur im Schritttempo fahren kann. Große Wasserpfützen mitten auf den Straßen, Straßenläden, einige sind in kaputten Containern untergebracht, bei anderen handelt es sich nur um Tische am Straßenrand. Die Ware ist vergleichbar der eines früheren Kramerladens in einem österreichischen Dorf. Unser Fahrer erzählt, dass die Leute in die Türkei fahren. Sie kaufen zum Beispiel billiges Waschpulver ein, das sie hier verkaufen – zu einem immer noch billigeren Preis als in den bulgarischen Läden. Selbst Bulgaren kommen in die Romaviertel zum Einkaufen, sagt er, weil es hier billiger ist.

Am Abend gehen wir essen. Wir schlendern ins Zentrum der Stadt: hübsche Läden, eine fast frisch restaurierte Altstadt, eine Moschee, orthodoxe Kirchen, teure Geschäfte. Hier ist es nicht viel anders als in jeder anderen europäischen Stadt, meint man. Plovdiv hat den Zuschlag erhalten: Es wird europäische Kulturhauptstadt 2019. Später erfahren wir, dass die Stadt in ihrer offiziellen Bewerbung für die europäische Kulturhauptstadt auch ein Budget für Sozialprojekte mit den Roma eingereicht hatte. Nur die Roma-Vertreter selber hatten davon nichts gewusst und waren auch nicht in die Planung dieser Projekte mit eingebunden gewesen. Erst auf einen nachdrücklichen Protest hin hatte sie die Stadtverwaltung informiert.

Unser Hotel liegt eher am Stadtrand. Auf der andern Straßenseite sieht man alte, renovierungsbedürftige Wohnblöcke, die noch aus der Zeit vor 1989 stammen könnten.

 

Samstag, 15. November:

Stolipinovo_landscape 2Nach dem Frühstück fahren wir nach Stolipinovo. Es liegt nordöstlich der Stadt am rechten Ufer der Maritsa, und wir sehen einiges von Plovdiv. Fabrikgebäude und alte Wohnblöcke bestimmen das Bild. Schließlich fährt das Taxi ins Viertel. Die Straßen werden von einem Augenblick auf den anderen schlechter, voller tiefer Löcher, kaum noch Asphalt. Ruinenartige Plattenbauten, dazwischen Hütten und einstöckige Häuser in katastrophalem Zustand. Müllhalden am Rande der Straßen, in denen Menschen und Tiere – hauptsächlich Hunde und Katzen – nach Verwertbarem suchen. Das Wetter ist nasskalt. Es qualmt aus provisorischen Röhren und riecht nach verbranntem nassem Holz. Das Taxi hält vor einem Gittertor. Dahinter ein Hof mit einem Containerbau. ROMA Foundation. Wir werden herzlich empfangen. Nach der Begrüßung beginnt das Gespräch über die Arbeit. Es geht um einen fast aussichtslosen Kampf gegen die Armut und den Rassismus, gegen den Ausschluss von Bildungschancen, vom Arbeitsmarkt, gegen die allgegenwärtige Diskriminierung von Roma…

Ich frage mich: Wie können die Menschen hier in Stolipinovo unter den herrschenden ökonomischen Bedingungen Bulgariens überleben? Ein Durchschnittslohn liegt bei 400 Lewa (etwa 205 Euro) im Monat. Die Stromkosten, die hier sehr hoch sind, fressen davon bereits die Hälfte – sofern man überhaupt Strom hat. Das Stromnetz in Bulgarien gehört durchwegs ausländischen Konzernen. In Plovdiv gehört der Strom EVN, der niederösterreichischen Verbundgesellschaft. Warum? Welche Logik ökonomischer Effizienz verbirgt sich hinter dieser befremdlichen Tatsache? Dass die EVN das Stromnetz hier organisiert, sei jedoch für die Roma nicht nur ein Nachteil, meint Andreas. Denn früher sei der Strom in Stolipinovo regelmäßig abgeschaltet worden, das passiere nun nicht mehr so leicht. Doch die Preise sind hoch. Die EVN ist ein Konzern, der Geld verdienen möchte.

Wie können die Menschen in Bulgarien überhaupt existieren? Im Speziellen hier in Stolipinovo, wo die Überlebensbedingungen noch bei weitem schwerer sind als unter der bulgarischen Mehrheitsbevölkerung. Andreas meint, es gebe zwei wesentliche Faktoren: einer davon ist die Schattenwirtschaft. Wer könne, arbeite schwarz, zu den schlechtesten Bedingungen natürlich und ohne jede Versicherungsleistung. Zum andern die Auslandsbulgaren: Die Auswanderungswellen während der wirtschaftlichen Krisen im postsozialistischen Bulgarien haben dazu geführt, dass tausende Bulgaren im „goldenen Westen“ (und dazu gehört neben den westeuropäischen Ländern auch die USA) Geld verdienen und einen Gutteil davon nach Hause, an ihre Familien, überweisen. Dasselbe Muster einer Schattenökonomie funktioniert auch in der Romagesellschaft. Die ethnische Segregation bewirkt allerdings, dass die Roma dasselbe wie Nicht-Roma auf den untersten Stufen der ökonomischen Hierarchie machen müssen. Sie erhalten, wenn überhaupt, die schmutzigsten und die am schlechtesten bezahlten Jobs. Manche verdienen Geld durch Sexarbeit und Betteln. Betteln wird allerdings als letzter Ausweg angesehen. Andreas meint noch, es finde eine enorme, zahlenmäßig nicht erfasste (und nicht erfassbare), durch Armut erzwungene Migrationsbewegung in Europa statt, innerhalb derer die Roma das sichtbarste und deshalb Anstoß erregendste Element seien. Assen Karagyozov, der hier den Jugendclub leitet, meint: „Die meisten von uns – vor allem die Jugendlichen – versuchen, im Ausland Arbeit zu finden. Dort verdienen sie ihr erstes Geld, gründen eine Familie in Stolipinovo, feiern hier Hochzeit. Dann geht’s wieder ins Ausland. Sie sind ständig unterwegs, immer in Bewegung, einem Job hinterher.“

Zur Vorbereitung dieser Reise habe ich mich mit Statistiken beschäftigt, soweit man diese in Literatur und im Internet überhaupt findet. Durch die Informationen und Erzählungen der Freunde in Stolipinovo lerne ich, diese Zahlen mit den Augen der Roma zu lesen. In Plovdiv – so erfährt man im Internet –  hätten bei der letzten Volkszählung etwa 10.000 Menschen angegeben, dass sie der Volksgruppe der Roma angehören. Wer nur einmal die Romasiedlungen in Plovdiv gesehen hat, weiß, dass dies eine irreführende Zahl ist. Sie ist dem bekannten Faktor „soziale Erwünschtheit“ – sprich dem umfassenden Rassismus in der bulgarischen Gesellschaft – geschuldet. Denn wer will sich hier schon offiziell als „Zigeuner“ bekennen? Allein in Stolipinovo leben etwa 55.000 Menschen, sagen unsere Freunde, und es ist eine klassische Roma-Siedlung. Wer hier lebt, ist Rom oder Romnij. Kein Bulgare, keine Bulgarin würde in Stolipinovo leben. Dabei spielt es keine Rolle, ob er oder sie nun slawischer oder türkischer Abstammung ist. Aber es wäre auch eine problematische Fremdbezeichnung, eine Etikettierung, die nicht mit dem Selbstverständnis der hier lebenden Menschen übereinstimmt, würde man nur sagen: „Sie sind Roma!“ Der überwiegende Teil der Roma in Stolipinovo versteht sich als Türken, nicht als Roma. Die Mehrheit würde sich deshalb in einer offiziellen Befragung nie als Rom oder Romnij bezeichnen. Andererseits werden diese Menschen von der Mehrheitsgesellschaft, auch von den so genannten „autochthonen“ Türken, als „Zigeuner“ betrachtet und niemals als Türken…

Es ist schon zwölf vorbei. Die Zeit verging rasch während der Gespräche. Wir gehen in ein kleines Lokal gleich um die Ecke Mittagessen. In den Straßen des Viertels hört man überall Musik. Wir kommen an einer Band vorbei, die auf der Straße spielt. Die Musik wird elektronisch verstärkt. Die Lautsprecherboxen stehen am Straßenrand.

Alle sagen, Stolipinovo sei ein Ghetto. Nun, es gibt keine sichtbaren Mauern um das Viertel, jedoch unsichtbare Barrieren, die beinahe unüberwindlich sind. Die Sprache ist eine solche Barriere. Sie verstellt den Zugang zu Bildungschancen und zu Arbeitsplätzen. Die meisten Menschen in Stolipinovo sprechen Türkisch. Die Kenntnisse der Zweitsprache sind bei den meisten Jugendlichen im Viertel niedrig. Manche sprechen kaum Bulgarisch. Geringe Sprachkenntnisse führen zu Defiziten bei der schulischen Bildung. Und: Wenn die Jugendlichen schlecht qualifiziert sind, sind sie nicht in der Lage, irgendeine Arbeit zu bekommen. Die Konsequenz ist Arbeitslosigkeit. Sie liegt hier bei etwa 95 Prozent, meinen die Kollegen von der Stiftung. Einige finden zeitlich begrenzte Gelegenheitsjobs oder arbeiten schwarz.

Sprache generiert Macht, und Macht wird ausgeübt, indem Wörter, Sätze und auch Namen zum Instrument von Herrschaft werden. Bis 1989 – also vor der Transformation Bulgariens von der kommunistischen Einparteienherrschaft zur so genannten Demokratie – gab es mehrere chauvinistische Phasen: „Bulgarisierungen“, wie sie genannt wurden. 1984 begann die damalige kommunistische Einheitspartei mit der Bulgarisierung der türkischen Namen. Über 800.000 türkischsprachige Bulgaren hatten bereits ein Jahr später bulgarische Namen. Als im Mai 1989 die Protestbewegung gegen diese erzwungene Assimilation wuchs, öffnete das kommunistische Regime die Grenzen zur Türkei und setzte auf einen Massenexodus der türkischen Minderheit. Sie betrieb eine Politik, die einerseits eine „Auswanderungshysterie“ der türkischen Minderheit schürte, andererseits aber auch gezielt Oppositionelle auswies. Mehr als 350.000 türkischstämmige Bulgaren sollen 1989 das Land verlassen haben. Auch die türkischstämmigen und türkischsprachigen Roma wurden „bulgarisiert“. Das heißt, sie wurden gezwungen, slawische Namen wie Ivanov und ähnliche anzunehmen. Nach dem Sturz der Einparteienherrschaft wurden die Personenrechte wieder hergestellt, und gegenwärtig ist das gesellschaftliche Klima gegenüber der türkischen Minderheit in Bulgarien wieder „liberaler“. Dennoch  wollen die Kinder der Roma, die damals „bulgarisiert“ wurden, nicht mehr zu ihren türkischen Namen zurückkehren, denn ein türkischer Rom wird noch stärker diskriminiert als ein bulgarischer. Identität, ethnische Herkunft, Erstsprache – Zweitsprache, Religionszugehörigkeit – alle Versatzstücke von Identität scheinen von einem Herrschaftsdenken überformt zu sein, das vereinheitlichen will. Man will eine uniforme Nation und bringt nichts als zerstückelte Identitäten hervor…

 

Sonntag, der 16. November:

Diskriminierung und Rassismus gehören zum Alltag der BewohnerInnen von Stolipinovo. Neben dem wirtschaftlichen Elend und einer „falschen“ nationalen Identität sind sie die größte unsichtbare Mauer, die Stolipinovo zum Ghetto werden lässt. Unsere Gesprächspartner erzählen uns von einigen Beispielen aus ihrem Bekanntenkreis: „Ein Freund hat sein Kind im städtischen Kindergarten angemeldet. Das Kind wurde zwar angenommen, aber es gibt dort Segregation, also eine separierte Kindergartengruppe, nur für Romakinder. Ein Bekannter wollte im letzten Sommer ein Schwimmbad in Plovdiv besuchen. Einfach im Sommer mit seinen Kindern baden gehen! Er wurde abgewiesen mit der Begründung, es sei überfüllt. Er sah aber, dass es beinahe leer war. Als er nachfragte, was das soll, bekam er die Antwort: ‚Anordnung vom Chef: No Roma!’ Letzten Sommer besuchten wir eine Schulung in Varna. Der Teilnehmerkreis war gemischt: Roma und Nichtroma. Besuch im Restaurant. Eine halbe Stunde lang kam kein Kellner an den Tisch, um unsere Bestellung aufzunehmen. Die Bulgaren, die dabei waren, gingen zum Manager. Sie bekamen zur Antwort: ‚Anordnung vom Chef: Keine Roma!’“

Wer nach außen als Rom oder Romnij erkennbar ist, für den heißt es: keine Restaurants in der Stadt besuchen (auch, wenn man das Geld dafür hat), kein Schwimmbad, kein Einkaufen in den Geschäften… Roma mit hellerer Hautfarbe trauen sich manchmal aus dem Viertel heraus, und auch das nur in Gruppen. Am wenigsten Probleme haben sie, wenn sie sich optisch nicht von der Mehrheitsbevölkerung unterscheiden. Eine junge Frau, die aus einem Nachbardorf zu Besuch ist und an einem Workshop der Stiftung teilnimmt, erzählt mir: „Manchmal gehen wir in die Stadt, in die Geschäfte. Viele von uns werden angepöbelt oder verjagt. Mir selber ist es noch nicht passiert. Es kommt auch darauf an, wie man sich selbst verhält. Zum Beispiel macht es viel aus, wie man sich kleidet. Wenn man sich schön anzieht, hat man weniger Schwierigkeiten.“ Die einzigen Roma, die wir während dieser vier Tage in der Innenstadt von Plovdiv zu Gesicht bekommen, sind Straßenkehrerinnen: Frauen, die unter der Aufsicht einer Bulgarin den städtischen Reinigungsdienst versehen. Andreas klärt uns auf, als wir danach fragen: Die meisten Roma beziehen keine Sozialhilfe, obwohl sie bitter arm sind. Warum? Die Sozialhilfesätze sind extrem niedrig und reichen nicht zum Leben. Außerdem werden die EmpfängerInnen zu gemeinnützigen Arbeiten herangezogen. Die Romafrauen, die wir sahen, sind also Sozialhilfeempfängerinnen, die zum Reinigungsdienst verpflichtet wurden. Für diese Arbeit werden sie im Stadtzentrum geduldet.

Der Rassismus spielt sich nicht nur auf den Straßen und in den Geschäften der Stadt ab. Ein wachsender Bereich, in dem Roma ausgegrenzt und zu Zielscheiben des Hasses gemacht werden, sind die politisch-gesellschaftlichen Diskurse in den alten wie den neuen Medien: Politische Akteure wie Volen Siderov, der Vorsitzende der nationalistisch-bulgarischen Partei „Ataka“, bedienen sich einer offen verhetzenden Sprache gegen die so genannten „Zigeuner“. Siderov ist im letzten Wahlkampf immer wieder mit der Aussage hervorgetreten: Sie sind „Mangal“, das heißt Scheißzigeuner, Dreckszigeuner. Eine andere Partei, die „Patriotische Front für die Rettung Bulgariens“, hat im Wahlkampf einen Menschenversuch an den Roma vorgeschlagen: Sie forderte, alle Zigeuner in von der Polizei bewachte Reservate zu stecken und als Touristenattraktion auszustellen. In den Stadien werden während eines Fußballspiels Transparente enthüllt: „Zigeuner zu Seife!“ Die Polizei greift nicht ein. Roma trauen sich deswegen kaum in ein Fußballstadion, auch wenn sie Fans des örtlichen Clubs sind. Sie schauen sich die Spiele im Fernsehen an.

Es ist Sonntag. Als ich danach frage, wie es die BewohnerInnen von Stolipinovo mit der Religion halten, ob es hier Moscheen und Kirchen gebe, erzählt Anton Karagyozov, der Vater von Assen, dass es in seiner Familie beides gebe: Moslems und Christen. Er selber sei evangelischer Christ und für ihn sei der Glaube sehr wichtig. Er gehe in eine freikirchliche Gemeinde, die ihre Gottesdiensträume am Rande des Viertels hat. Er könne den Pastor anrufen und fragen, ob er Zeit für ein Gespräch habe, und wir die Gemeinde besuchen könnten. Wir stimmen zu, und er geht hinaus, um zu telefonieren. Am Nachmittag können wir kommen, sagt er nach dem Telefonat. Der Pastor freue sich auf unseren Besuch.

Für viele Roma von Stolipinovo hat Religion einen hohen Stellenwert. Es gibt zwei große religiöse Gruppen unter ihnen: die muslimischen Roma, die zum größten Teil türkischsprachig sind, und die christlichen, die teils Türkisch, teils Romanes als Erstsprache haben. Die meisten ChristInnen in Stolipinovo waren früher bulgarisch-orthodox, doch viele von ihnen gehören jetzt den protestantisch-freikirchlichen Gemeinden an. Zwischen den Menschen mit unterschiedlichen religiösen Bindungen gibt es keine Trennung, meint Anton. Ein Beispiel: Jemand erzählt uns, er komme aus einer Kernfamilie, die christlich ist. In der weiteren Familie sei man jedoch mehrheitlich muslimisch. Zu den Begräbnissen werde der Hodscha geholt und nicht der Pope. Die Menschen werden nackt und in einem Tuch begraben und nicht mit ihren Kleidern und in einem Sarg.

Gegenwärtig nimmt der Einfluss der freikirchlichen Missionare zu. Es gibt inzwischen einheimische Roma, die als Missionare ausgebildet sind und diese Form des christlichen Glaubens verbreiten. Der Pastor, den wir am Nachmittag besuchen werden, gehört zu ihnen. In Bulgarien – das merkt Andreas zusätzlich an – gibt es noch eine kleine Gruppe von Bogumilen. Sie waren eine der ältesten christlichen Kirchen auf dem Balkan und gleichzeitig eine der ersten religiös-sozialen Bewegungen, die gegen das Staatskirchentum und die feudalistische Unterdrückung der Bauern auftraten. Die meisten ihrer Anhänger begrüßten die türkische Eroberung des Balkans im 15. Jahrhundert und konvertierten zum Islam. Seither blieben die Bogumilen eine religiöse Minderheit in Bulgarien. Andreas schätzt sie heute auf etwa 300 Personen, mehr nicht.

Der Pastor und sein Sohn empfangen uns im Gottesdienstraum der Gemeinde, der zugleich der Versammlungsraum sein dürfte. Er ist in einem kleinen Gebäude untergebracht, das wie eine ehemalige Lagerhalle aussieht. Er erzählt von seiner Arbeit und vom Leben der Gemeinde. Besonders emotional und mit Nachdruck schildert er die Situation der Jugendlichen in Stolipinovo. Er berichtet davon, dass die meisten auf der Straße leben, kaum in die Schule gehen, Drogen konsumieren oder verkaufen und keine Zukunft für sich sehen. Kein Wunder, meint er. Denn die Gesellschaft tut nichts für sie – im Gegenteil. Aus keinem anderen Grund als jenem, dass sie Roma sind, werden sie ausgegrenzt. Sie kommen nicht in die besseren Schulen im Stadtzentrum, sie haben keine Chance auf Arbeit, müssen ins Ausland, wo es ihnen oft auch nicht viel besser geht…

Während der Pastor spricht, denke ich an ein Gespräch, das ich gestern mit einem jungen Friseur aus Stolipinovo führte. Er hat mir seine Geschichte erzählt: „Ich hatte Schulfreunde, die mit ihren Familien nach Hamburg gegangen sind und hielt immer noch Kontakt zu ihnen über social media. Als ich 17 Jahre alt war, bin ich dann selber nach Hamburg gegangen, habe mir dort Arbeit gesucht und sie auch gefunden: Zuerst lebte ich sieben Monate lang nur bei der Familie meiner Freunde. Erst mit 18 konnte ich wirklich arbeiten. Ich arbeitete als Barkeeper in einer Bar in St. Pauli, drei Jahre lang. Während dieser Jahre musste ich immer zwischen Hamburg und Stolipinovo hin und her wechseln, denn ich konnte nur für drei Monate dort bleiben. Wieder in Plovdiv bin ich zur Schule gegangen. Nach diesen drei Jahren arbeitete ich zwei Jahre lang in einem Hotel. Als die Schule zu Ende war, blieb ich zunächst dauerhaft in Hamburg. Aber meine Mutter ist schon alt, und deshalb kehrte ich nach Stolipinovo zurück. Sie lebt Gott sei Dank noch. Ich kann auch hier etwas Geld verdienen und arbeite als Visagist und Friseur. In Zukunft jedoch will ich wieder zurück nach Deutschland und dort meinen Beruf weiter ausüben. In diesem Land ist es weder für mich noch für die andern von uns möglich, ein normales Leben zu führen.“

Der Pastor meint, die Gemeinde versuche, die Jugendlichen von der Straße zu holen. Die Gemeinde bietet ihnen Musikunterricht an. Es gibt mehrere Chöre. Es kommen viele, und dennoch ist es nur ein kleiner Teil der Masse von Jugendlichen, die hier ohne Perspektive leben und die meiste Zeit auf der Straße verbringen. „Ich bin selber Rom und weiß, wie es den Leuten hier geht, was ihre Bedürfnisse sind. Wir versuchen zu helfen und die Verhältnisse hier zu verbessern. Es ist schwer, aber wir haben Hoffnung. Denn wir verstehen uns in der Tradition von Martin Luther King und der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Auch ihr Kampf schien aussichtslos, und heute haben sie einen schwarzen Präsidenten!“

 

Montag, der 17. November:

Die Partner in Stolipinovo

Die Partner in Stolipinovo

Zum Abschied waren wir gestern Abend mit Anton und Assen essen. Wir besuchten ein „gutes“ bulgarisches Restaurant in der Stadt. In diesem Lokal kennt man die beiden, und wir werden bedient.

Ursula Liebing hat gestern mit einer Mitarbeiterin der ROMA Foundation über die Frauen im Stadtteil gesprochen. Deren Situation ist von einem klassischen Rollenmuster geprägt: In der Regel sind sind ausschließlich für Haushalt, Pflege, Versorgung der Familie und Kinderbetreuung zuständig – ein schwieriges, oft unmögliches Unterfangen; es bedeutet, abgetragene Kleider nochmals zusammenzunähen und zu flicken, aus Nichts etwas Essbares zu machen… Frauen haben deshalb noch geringere Bildungschancen als Männer. Schule und berufliche Ausbildung sind für sie zweitrangig. Das ist auf patriarchale Rollenbilder zurückzuführen und wird durch die soziale Situation noch verstärkt. Denn die jungen Männer sind einen großen Teil der Zeit auf Jobsuche unterwegs. Ein weiteres Problem stellen die frühen Schwangerschaften dar. Die jüngste Frau, die schwanger war und von der Foundation betreut wurde, war ein elfjähriges Mädchen. Deshalb sei es ganz wichtig, Aufklärung zu den Themen Verhütung und Familienplanung anzubieten, hatte die Mitarbeiterin gemeint. Ein weiteres Problem für Frauen ist die Gesundheitsvorsorge, im besonderen jene gegen HIV, denn viele der jungen Männer in Stolipinovo gehen als Stricher nach Deutschland, um Geld für ihre Familien zu verdienen. Die Betreuung und Begleitung solcher jungen Familien – die Eltern sind Jugendliche oder fast noch Kinder – ist auch deshalb wichtig, weil ihnen sonst die Kinder von den Jugendämtern abgenommen werden. Eine soziale Begleitung der Familie erleichtert wiederum die Rückholung fremd untergebrachter Kinder in die eigene Familie. Frauen, die alleine sind, weil der Mann sich von ihnen trennte oder im Ausland blieb, haben den doppelten Druck: Familienarbeit und Geldverdienen, und das unter katastrophalen sozialen Bedingungen. Nur wenige Frauen in Stolipinovo, meinte die Mitarbeiterin, gehen der Sexarbeit nach, und wenn sie es tun, handelt es sich um Alleinstehende.

Am Montag früh holt uns Assen ab und bringt uns mit seinem Auto nach Sofia. Ich trage während der Fahrt wenig zum Gespräch bei. Bilder der letzten drei Tage gehen mir ständig durch den Kopf, Ausschnitte von Gesprächen fallen mir ein. Der Abschied am Flughafen ist herzlich und kurz: Assen steht im Halteverbot. Bis unser Flug aufgerufen wird, schlendern wir durch die Shops. Ich empfinde als irritierend luxuriös, was mir bei der Anreise in Schwechat so vertraut war, dass ich es kaum wahrgenommen hatte. Ich fühle mich fremd hier.

Nähere Informationen zur ROMA Foundation sowie zur Partnerschaft mit der Plattform unter: http://www.menschenrechte-salzburg.at

 

von Osman Günes

aos3Seit 2007 ist Bulgarien Mitglied der Europäischen Union. Da es unsere erste Reise nach Bulgarien war, wussten wir bei unserem Lokalaugenschein von 08. bis 12. Februar natürlich nicht, was uns erwarten würde.

Zu Beginn unserer Reise besuchten wir die Stadt Chaskowo. Die Straßenbedingungen sind nicht mit dem österreichischen Standard zu vergleichen. Trotz der vielen Schlaglöcher entgingen uns auch die Unterschiede in der Bauqualität der Häuser nicht.

Während der weiteren Fahrt änderte sich das Aussehen der Häuser und Straßen. Die Fahrt wurde ruhiger und die Häuser wurden luxuriöser, mit gepflegten Gärten und ansprechenden Fassaden. Auch in der Einfahrt standen teurere Autos.

Der Großteil der Stadt machte aber einen heruntergekommenen und teilweise verfallenen Eindruck. Diese Wahrnehmung bezieht sich auf alle Gebäudearten, wie z.B. Wohnhäuser, öffentliche Gebäude, oder auch Geschäftslokale. Auffallend war noch, dass viele dieser Gebäude leer standen. Fast geschockt waren wir über den Zustand ihres Krankenhauses.

Unser Führer erklärte uns, es gäbe viele Einkaufszentren in denen nur wenige Geschäfte sind, da aufgrund des geringen Einkommens die Kaufkraft der Einwohner fehlt. Viele Bulgaren pendeln mehrere Stunden ins benachbarte Griechenland oder in die Türkei, da dort die Einkommen höher sind.

Eine Ansammlung von Menschen zog unsere Aufmerksamkeit auf sich. Unser Reiseleiter erklärte uns, dass diese Leute auf Arbeit warten. Einige Baufirmen entsenden hierher ihre Wägen um günstige Arbeitskräfte für einen Tag, durchschnittlich werden € 10,- pro Tag bezahlt, zu rekrutieren.

aos2Wir konnten mit Hilfe unseres übersetzenden Führers mit einigen Studenten auf der Straße sprechen. Fast alle hoffen auf einen späteren Job im Ausland, da das durchschnittliche Gehalt bei einem abgeschlossenes Masterstudium bei € 500,- pro Monat liegt.

Mit diesen geballten –  für unseren Standard ernüchternden – Eindrücken ist es aus unserer Sicht nicht verwunderlich, warum viele Bulgaren auswandern wollen. Allein in der Stadt Chaskowo ist die Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten von ca. 100 000 auf 79 000 Einwohner zurückgegangen.

Abschließend möchte ich sagen, dass dieser Besuch eine sehr große Wirkung auf uns hatte. Die Korruption der Regierung und die Macht der bulgarischen Mafia setzen den Einwohnern hart zu. Auch wenn wir das Vorgehen nicht direkt gesehen/erfahren haben, sind diese Vorgänge doch allgegenwärtig. Es ist für uns nicht vorstellbar, dass in einem EU Land die Wirtschaftsleistung auf einige Wenige aufgeteilt wird und den meisten Menschen das Geld für unbedingt notwendige Dinge wie Medikamente, Hygieneartikel oder Nahrungsmittel nicht zur Verfügung steht.