Beschneidung – Verletzung des Kindeswohls oder praktizierte Religionsfreiheit?
von unserem Gastautor Josef P. Mautner
„Unter der Vorhaut san alle gleich.“
Helmut Qualtinger
http://www.menschenrechte-salzburg.at/nc/publikationen/mr-berichte.html
Das Landgericht Köln hat mit seinem Urteil vom 7.5. 2012, das eine Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Amtsgerichtes Köln vom 21.09.2011 verwarf, eine breite Debatte um die Illegitimität bzw. Legitimität von Beschneidung als religiösem Ritual ausgelöst. Diese Debatte ist auch auf Österreich übergegangen und wurde im Juli 2012 mit ungewöhnlicher Heftigkeit in mehreren österreichischen Medien ausgetragen. Vorarlbergs Landeshauptmann Markus Wallner (ÖVP) empfahl in der Folge des Kölner Urteils den Medizinern in seinem Bundesland, vorerst keine Beschneidungen mehr an Buben durchzuführen. Die Vertreter von Juden und Muslimen reagierten empört.
Im Justizministerium reagierte man „verwundert“ über den Vorstoß Wallners. Sektionschef Christian Pilnacek meldete sich zu Wort und erklärte: „Die Rechtslage ist klar. Der Eingriff ist straflos und stellt keine Körperverletzung dar.“ Kärntens Landeshauptmann Gerhard Dörfler (FPK) ging noch einen Schritt weiter als Wallner. Er forderte, dass religiös motivierte Beschneidungen generell verboten werden sollen. Er stellte fest: „Ich bin gegen jede Art von Genitalverstümmelung“ und qualifizierte damit die Beschneidung generell als Akt der Verstümmelung. Landeshauptfrau Gabi Burgstaller (SPÖ) sieht die Beschneidung als „Eingriff in die körperliche Integrität von Kindern“ selbst „sehr kritisch“, sprach sich aber gegen ein Verbot aus – mit der Begründung, das Verbot würde dazu führen, dass das Ritual unter fragwürdigen hygienischen Bedingungen durchgeführt werde. Die Religionsgemeinschaften in Österreich reagierten alarmiert auf die Debatte. Ariel Muzicant, Ehrenpräsident der Israelischen Kultusgemeinde (IKG), hatte in der „Kleinen Zeitung“ Graz sogar festgestellt, ein Beschneidungsverbot „wäre dem Versuch einer neuerlichen Schoah, einer Vernichtung des jüdischen Volkes, gleichzusetzen – nur diesmal mit geistigen Mitteln“. Am Freitag, 27. Juli 2012 fand in den Räumen der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien eine Pressekonferenz zum Thema „Die Antibeschneidungskampagne – eine Bedrohung der Religionsfreiheit“ statt. Bei dieser PK wurde von Spitzenrepräsentanten der monotheistischen Religionsgemeinschaften – dem Präsidenten der IKG Oskar Deutsch, dem Präsidenten der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) Fuat Sanac, dem Bischof der Evangelisch-lutherischen Kirche, Michael Bünker und dem Generalsekretär der Österreichischen Bischofskonferenz, Peter Schipka, gefordert, dass die Regierung die rechtliche Zulässigkeit der männlichen Beschneidung aus religiösen Gründen weiterhin sicherstelle und somit „ein klares Bekenntnis zur Religionsfreiheit“ abgebe. „Das ist keine Bitte, sondern eine Forderung an die Regierung“ – so die neu gegründete Plattform der monotheistischen Religionsgemeinschaften.
- 1. Tradition gegen Moderne – ein Ideologiekonflikt?
Die Debatte pro und contra ein Beschneidungsverbot wurde und wird auf ganz verschiedenen Ebenen geführt, und es verquicken sich in ihr eine Reihe aktueller Konfliktfelder, die mit der Fragestellung „Körperverletzung oder Religionsfreiheit?“, wie sie in Österreich im Vordergrund der Debatte steht, nur indirekt verbunden sind. ich nenne beispielhaft nur einige von ihnen:
– ein Konflikt auf weltanschaulicher Ebene zwischen religionsgebundener und religionskritischer Positionierung;
– damit verbunden das Konfliktfeld zwischen dem Respekt vor den Riten zweier Minderheitenreligionen, die nicht oder nur teilweise rational begründbar sind, und einer vernunftgeleiteten Haltung, die religiöser Autorität und Traditionsargumenten kritisch bzw. ablehnend gegenüber steht;
– ein pädagogisches Konfliktfeld zwischen stellvertretender elterlicher Festlegung / Entscheidung im Rahmen von religiöser Erziehung und Neutralität bzw. Zurückhaltung der Eltern in Weltanschauungs- und Religionsfragen, die möglichst viel Raum für die Entscheidungsautonomie des entscheidungsreif und volljährig gewordenen Kindes lässt;
– ein Konflikt auf medizinischer Ebene zwischen Zustimmung und Ablehnung gegenüber einem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, der nicht medizinisch indiziert, sondern durch Tradition bzw. Religion begründet ist;
– damit verbunden eine Uneinigkeit in der Frage, ob die Beschneidung der Vorhaut des männlichen Gliedes gesundheitlich und hygienisch eher förderliche oder eher negative Wirkungen habe;
Als übergeordnetes Thema, das alle Konfliktebenen, die in diese Debatte eingeführt wurden, miteinander verbindet, sehe ich das Konfliktfeld zwischen der Haltung einer religiös motivierten Traditionsgebundenheit und der Haltung einer säkular orientierten, tendenziell religions- und traditionskritischen Moderne. Beide Haltungen definieren sich in der Debatte tendenziell ideologisch, d.h. in einem unvereinbaren Widerspruch zur jeweils anderen, der aus dem Anspruch der vorrangigen Geltung des eigenen Weltverständnisses abgeleitet ist. Was ich v.a. auch vor dem Hintergrund des normativen Rahmens der Menschenrechte (der ja in der Debatte immer wieder zitiert wird!) vorrangig kritisch betrachte, ist diese ideologisierende Tendenz auf beiden Seiten der Debatte: eine Tendenz nämlich, den Vorrang eines Menschenrechtes gegenüber dem anderen (Recht auf körperliche Unversehrtheit versus Recht auf freie Religionsausübung) zu behaupten, um die eigene ideologische Position zu legitimieren!
- 2. Die menschenrechtliche Dimension des Konfliktes
Dem gegenüber erscheint es mir hilfreich, die menschenrechtliche Dimension des Konfliktes von den genannten ideologischen Konfliktfeldern zu unterscheiden und einmal nüchtern zu betrachten, inwiefern ein Beschneidungsverbot tatsächlich einen Grundrechtskonflikt – also eine Dilemmasituation zwischen zwei verschiedenen Menschenrechten darstellt.
Was war im Vorfeld des Kölner Urteils geschehen? Ein Arzt hatte im November 2010 in seiner Praxis in Köln einem vierjährigen Knaben auf Wunsch seiner Eltern aus religiösen Gründen die Vorhaut beschnitten. Die Familie des Kindes ist islamischen Glaubens. Der Arzt vernähte die Wunden und versorgte den Knaben bei einem Hausbesuch am Abend desselben Tages weiter. Am 06. November 2010 wurde das Kind von seiner Mutter in die Kindernotaufnahme der Universitätsklinik Köln gebracht, um Nachblutungen zu behandeln. Die Blutungen wurden dort gestillt. Die Staatsanwaltschaft Köln verklagte daraufhin den Arzt beim Amtsgericht Köln, und dieser wurde von der Anklage freigesprochen. In seinem Urteil vom 7.5. 2012 hatte nun das Landgericht Köln der Berufung der Staatsanwaltschaft nicht stattgegeben und den Arzt erneut freigesprochen – allerdings den Vorwurf der Staatsanwaltschaft in der Sache bestätigt![i]
Für den Problembereich eines potentiellen Konfliktes zwischen dem Recht auf körperliche Unversehrtheit und dem Recht auf freie Religionsausübung ist das Urteil deshalb von Bedeutung, weil das Landgericht in seiner Urteilsbegründung eine Abwägung zweier Grundrechte vornimmt und dabei zu einer eindeutigen Entscheidung kommt: „Der Veranlassung der Beschneidung durch die Eltern soll auch keine rechtfertigende Wirkung zukommen, da dem Recht der Eltern auf religiöse Kindererziehung in Abwägung zum Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und auf Selbstbestimmung kein Vorrang zukomme, so dass mit der Einwilligung in die Beschneidung ein Widerspruch zum Kindeswohl festzustellen sei.“[ii]
Eine wesentliche Rechtsquelle für das Recht der Eltern auf Entscheidung über religiöse Zugehörigkeit und religiöse Erziehung ist der Artikel 18 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 16.12.1966 (UN-Menschenrechtspakt II), der in Abs. 4 festhält: „Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die Freiheit der Eltern und gegebenenfalls Vormunds oder sonstigen Sachwalters zu achten, die religiöse und sittliche Erziehung ihrer Kinder in Übereinstimmung mit ihren eigenen Überzeugungen sicherstellen.“ Auch im abschließenden Dokument des Wiener Folgetreffens der KSZE 1986 wird unter (16) festgehalten: „Um die Freiheit des Einzelnen zu gewährleisten, sich zu seiner Religion oder Überzeugung zu bekennen und dies auszuüben, werden die Teilnehmerstaaten (…) in diesem Zusammenhang unter anderem die Freiheit der Eltern achten, die religiöse und sittliche Erziehung ihrer Kinder in Übereinstimmung mit ihren eigenen Überzeugungen sicherzustellen“ (16.7). Dieses Elternrecht findet in der österreichischen Gesetzgebung im sog. „Israelitengesetz“ seinen ausdrücklichen Niederschlag.[iii] Dieses Recht sei – gemäß dem Kölner Urteil – eingeschränkt durch das Recht des Kindes selber auf körperliche Unversehrtheit (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 3) und deshalb im Falle der Beschneidung von unmündigen Kindern nicht vorrangig, sondern nach zu reihen. Auch Art. 24 c der UN-Kinderrechtskonvention wird als Grundrechtsquelle herangezogen, um das Elternrecht auf Beschneidung als nachrangig zu betrachten: „Die Vertragsstaaten treffen alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich. sind, abzuschaffen.“ Das Kölner Urteil führt als für das Verbot von Beschneidung entscheidendes Argument auch ins Treffen, dass die Beschneidung eine unumkehrbare Entscheidung über die Religionszugehörigkeit des Kindes beinhalte: „Zudem wird der Körper des Kindes durch die Beschneidung dauerhaft und irreparabel verändert. Diese Veränderung läuft dem Interesse des Kindes später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können zuwider.“[iv] Nach Meinung des Gerichtes „entspricht die Beschneidung des nicht einwilligungsfähigen Knaben weder unter dem Blickwinkel der Vermeidung einer Ausgrenzung innerhalb des jeweiligen religiös gesellschaftlichen Umfeldes noch unter dem des elterlichen Erziehungsrechts dem Wohl des Kindes.“ Es argumentiert mit dem Grundgesetz und kommt zu dem Schluss, dass das Grundrecht der Eltern (festgelegt im deutschen Grundgesetz unter Artikel 4 Abs. 1, 6 Abs. 2 GG) dem Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung (entsprechend Artikel 2 Abs.1 und 2 Satz 1 GG) nach zu reihen ist.
Die Debatte führte in ihrer unmittelbaren Folge in Deutschland bereits zu ersten Schritten, um die rechtlichen Rahmenbedingungen der Beschneidung differenzierter zu formulieren: Am 19. Juli 2012 wurde im Deutschen Bundestag ein Entschließungsantrag angenommen, der die Bundesregierung auffordert, „einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sicherstellt, dass eine medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich zulässig ist“.[v] Auch der Deutsche Ethikrat hat in einer öffentlichen Plenarsitzung vom 23. August 2012 das Thema behandelt und vier Grundanforderungen für eine gesetzliche Regelung der Beschneidung formuliert: „umfassende Aufklärung und Einwilligung der Sorgeberechtigten, qualifizierte Schmerzbehandlung, fachgerechte Durchführung des Eingriffs sowie Anerkennung eines entwicklungsabhängigen Vetorechts des betroffenen Jungen“.[vi]
Der UN-Sonderbotschafter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit, Heiner Bielefeldt, sieht in diesem Urteil eine unsachgemäße Abwägung von Grundrechten zu Ungunsten der Religionsfreiheit: „Die Religionsfreiheit kommt in diesem Urteil nicht angemessen vor, und dort, wo sie vorkommt, wird sie verdreht“, stellte Bielefeldt bei einer Tagung im Juli 2012 in Salzburg fest. Als eine solche Verdrehung qualifiziert Bielefeldt v.a. die Feststellung der Kölner Richter, die Beschneidung als irreparabler körperlicher Eingriff hebe das Recht des Kindes auf, später autonom über seine Religionszugehörigkeit zu entscheiden. Allein die Geschichte des frühen Christentums – so Bielefeldt – zeige, dass das Beschnittensein einen Religionswechsel bzw. religiöse Mobilität auch in der Antike keineswegs ausgeschlossen habe, denn die frühen Christen seien alle beschnittene Juden gewesen.
- Reflexion der religiösen Traditionen als Voraussetzung einer sachgemäßen Abwägung im Grundrechtskonflikt
Dieses eine, von Bielefeldt herausgegriffene Beispiel zeigt eine Problematik des Kölner Urteils auf, die in weiterer Folge auch als charakteristisch für die gesamte Debatte um das Beschneidungsverbot betrachtet werden kann: Das Urteil des Kölner Landgerichtes geht in keiner einzigen Passage inhaltlich auf die religiöse Bedeutung der Beschneidung (v.a. im Islam, wie es im gegenständlichen Fall geboten gewesen wäre) ein, sondern qualifiziert sie ausschließlich als „tatbestandsmäßige Körperverletzung“, die zu rechtfertigen gewesen wäre. Es wird in der Folge auch nicht auf die je spezifische Bedeutung der Beschneidung im Judentum und im Islam eingegangen. Die Frage der möglichen religiös-weltanschaulichen Mobilität, des Religionswechsels trotz Beschneidung wird weder für die Gegenwart noch für die Geschichte angesprochen. Hier zeigt sich also ein Defizit, das eine sachgemäße Abwägung im Grundrechtskonflikt zumindest erschwert, wenn nicht unmöglich macht: eine fehlende historisch-kritische Reflexion der einer Beschneidung zugrundeliegenden religiösen Traditionen. Hinzu kommt noch, dass Beschneidungsverbote im europäischen Kontext niemals neutral – d.h. ohne den Hintergrund ihrer Bedeutung in der Geschichte des Antijudaismus und Antisemitismus – betrachtet werden können! Ich möchte deshalb hier nur einige ausgewählte Aspekte der weit verzweigten und ausdifferenzierten religiösen Traditionen im Zusammenhang des Beschneidungsrituals anführen:
Die kultur- und religionsgeschichtlichen Ursprünge der Beschneidung sind ungesichert. Zwei Entstehungsgründe werden hauptsächlich angeführt: Einerseits Beschneidung als Mittel zur Kontrolle der Sexualität von Sklaven und Unterschichten und andererseits Beschneidung als Substitution bzw. „Pars-pro-toto-Opfer“ anstelle von Menschenopfern bzw. von Kastration. Weit verbreitet ist die Interpretation der Beschneidung als Initiationsritual von Knaben (und auch Mädchen) in die Gesellschaft der Erwachsenen. In Ägypten vermutet man auch einen Zusammenhang mit der mythischen Symbolik der sich häutenden Schlange, die Unsterblichkeit symbolisiert; daraus wird gefolgert, dass die Beschneidung der männlichen Vorhaut der menschlichen Seele Unsterblichkeit verleihen solle.
Die „Brit Mila“, die rituelle Beschneidung der männlichen Vorhaut (Zirkumzision) geht auf den Text im Ersten Buch Mose Kap. 17 zurück, in dem sie als Zeichen des Abrahamitischen Bundes zwischen JAHWE und seinem Volk festgesetzt wird: „Dies aber ist mein Bund, den ihr wahren sollt zwischen mir und euch und deinen Nachkommen nach dir: Alles Männliche unter euch soll beschnitten werden, und zwar sollt ihr an dem Fleische eurer Vorhaut beschnitten werden. Dies sei das Zeichen des Bundes zwischen mir und euch.“ (Gen. 17, 10/11) Eine ältere Auffassung dürfte die Beschneidung als Initiationsritus in die Ehe und Voraussetzung für die Aufnahme in das Stammesleben betrachtet haben (Gen. 34, 14f.). In Gen. 17 wird sie als zentrales Bundeszeichen neben dem Regenbogen (dem Noahbund) charakterisiert. In den Gesetzestexten spielt sie allerdings eine eher untergeordnete Rolle.[vii] Ihre volle Bedeutung im religiösen Leben Israels erhielt sie erst seit der Zeit des Exils. Die „Brit Mila“ gehört auch zu den 613 Mitzwot. Zur Verbindlichkeit der Beschneidung lässt sich sagen, dass sie innerhalb der religiös pluralen Verfasstheit des Judentums breiteste Akzeptanz ihrer Geltung genießt: nicht nur vom orthodoxen Judentum, sondern auch vom säkularen Zionismus wie vom progressiven Judentum wird sie als unerlässliches Zeichen der Zugehörigkeit angesehen. Deshalb hat sich in der aktuellen Debatte auch die „World Union for Progressive Judaism“ für das Recht eingesetzt, weiterhin Beschneidungen vornehmen zu dürfen: „The World Union for Progressive Judaism, representing 1.8 million Jews in 45 countries around the world greets with joy and gratitude the resolution of the German Parliament supporting religious circumcision of boys.“[viii] Deshalb wird ihr von breiten Teilen des Judentums eine absolute Geltung zugesprochen, die auch Auswirkungen auf die Position der jüdischen Gemeinden zum aktuellen Konflikt hat: „Über allen Debatten für oder wider eine rituelle jüdische Beschneidung ist jedoch zu bedenken, daß es sich bei der Brit Mila nicht um eine Angelegenheit handelt, über die jüdische Eltern für ihre Söhne bzw. erwachsene jüdische Männer für sich selbst nach freiem Belieben entscheiden, sondern daß sie eines der wichtigsten Gebote des Judentums darstellt – und damit eine Verpflichtung dem Ewigen gegenüber, als Zeichen des immerwährenden Bundes mit Seinem Volk.“[ix] Andererseits gibt es eine wachsende Minderheit in jüdischen Gemeinden, die statt der „Brit Mila“ eine „Brit Shalom“, d.h. eine Aufnahme des Kindes in die jüdische Gemeinschaft durch Namensgebung ohne Zirkumzision praktiziert.[x]
Beinahe ebenso alt wie die Gültigkeit der Beschneidung im Judentum ist ihr Verbot sowie die Verfolgung von Juden aufgrund der Beschneidung. Die ältesten Belege dafür findet sich in den beiden Makkabäerbüchern. Im Zuge der Zwangshellenisierung des Judentums unter König Antiochos IV. Epiphanes (* um 215 v. Chr.; † 164 v. Chr.) wurde auch die Beschneidung verboten. 1 Makk. 1, 51-64 schildert die Verfolgungshandlungen: „Die Frauen, die ihre Kinder hatten beschneiden lassen, töteten sie gemäß dem Befehl, hängten ihnen die Kinder an den Hals (…) und töteten auch jene, die die Beschneidung vorgenommen hatten.“ 2 Makk. 6, 10 schildert den Fall zweier Frauen, die wegen der Beschneidung ihrer Kinder angezeigt worden waren: Auch ihnen hängte man die Kinder um die Brust und stürzte sie von der Stadtmauer hinab. Asl ein möglicher Anlass für den Bar-Kochba-Aufstand 132 bis 135 n. Chr. Wird auch ein Beschneidungsverbot der römischen Kaisers HAdrian genannt, das allerdings nur indirekt belegt ist. Zu den wichtigsten Bilddokumenten der Judenfeindschaft im Mittelalter gehört ein Holzschnitt aus dem Jahr 1493, der die Beschneidung und anschließende Ermordung eines Christenkindes durch Juden darstellt und so die Motive von Beschneidungsphobie und Ritualmordphantasie miteinander verbindet. Auch im Zusammenhang mit Ritualmordvorwürfen in Tyrnau (1494) spielt die Beschneidung als „Blutritual“, das mit der Phantasierten Gier der Juden auf Christenblut in Verbindung gebracht wird, eine zentrale Rolle: „Erstens wird ihnen [den Juden] in der Überlieferung ihrer Vorfahren gesagt, dass das Blut eines Christen ein hervorragendes Mittel sei, um eine durch die Beschneidung hervorgerufene Wunde zu heilen. Zweitens sehen sie, dass das Blut die Zubereitung eines Gerichts ermöglicht, das die gegenseitige Liebe weckt. Drittens haben sie festgestellt, dass für an monatlichen Blutungen Leidenden, ob sie Mann oder Frau sind, das Blut eines Christen ein hervorragendes Heilmittel bildet.“[xi] Karikaturen, die Tötungs- oder Kastrationsphantasien in Verbindung mit der Beschneidung aktivieren, finden sich auch im Zusammenhang der gegenwärtigen Debatte: so etwa eine Karikatur im „Berlin-Kurier“ vom 17. Juli 2012. Sie zeigt einen mit Kutte bekleideten Mann mit „Judennase“. In der einen Hand hält er ein noch blutiges Messer, in der anderen den Penis und Hodensack eines mit der jüdischen Kippa gekennzeichneten Jungen. „Oh – oh, heute ist nicht mein Tag“ ruft der Mann, der Junge ihn tröstet ihn: „Kopf hoch, es wird bald nicht mehr strafbar!“. Diese Art von Karikaturen sind eindeutig antisemitisch konnotiert und gehen auf eine Tradition der Bilder von „blutigen Judenmessern“ zurück, die der „Stürmer“ aufgegriffen und gepflegt hat. Im Zusammenhang der Shoah wurde das krude Faktum, dass das Beschnittensein ein irreversibles körperliches Merkmal bedeutet, zur tödlichen Falle. Ich greife einen Vorgang unter unzähligen heraus: Mit dem Überfall der deutschen Truppen auf die Sowjetunion im Juni 1941 begann auch die Tätigkeit der sog. „Einsatzgruppen“, die den Auftrag hatten, hinter der Front „gefährliche Personen“ und „radikale Elemente“ zu ermorden. Am 8. September erhielten sie den Befehl, darüber hinaus „Selektionen“ unter den sowjetischen Kriegsgefangenen durchzuführen. Zu den „Selektierten“ gehörten neben Parteifunktionären, Politkommissaren und Intellektuellen natürlich auch die Juden. Unter Mitwirkung von Militärärzten wurden die Penisse der Gefangenen untersucht, die Beschnittenen selektiert und den Erschießungskommandos zugeführt. In diesem Zusammenhang wurden 50.000 bis 100.000 sowjetische Juden, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren, erschossen.[xii] Dass in der aktuellen Debatte Hinweise auf diese tödliche geschichtliche Dimension eines Diskurses über Beschneidung als „illegitimes Schwingen der Nazikeule“ abgetan wurden, zeugt m.E. von einem Verlust an historisch-kulturellem Tiefenbewusstsein, der zu einer Desensibilisierung für neue Formen der Ausgrenzung und Abwertung von Minderheiten führen kann.
Im Islam geht das Beschneidungsgebot (hitan) nicht direkt auf den Koran, sondern auf die Sunna zurück. Aus dem Koran lässt sich das Gebot der Beschneidung für Muslime nur indirekt aus dem Gebot, dem „Weg Abrahams zu folgen“ ableiten.[xiii] Sie wird in der Sunna als notwendige Voraussetzung zur rituellen Reinheit beschrieben: „Zur ‚Fitra‘ (natürlichen Veranlagung) gehören fünf Dinge: Die Beschneidung (der Männer/Jungen), das Abrasieren der Schamhaare, das Schneiden der (Finger- und Fuß-) Nägel, das Auszupfen (bzw. Rasieren) der Achselhaare und das Kurzschneiden des Schnurrbarts.“[xiv] Diese Reinheitsgebote (manchmal fünf, manchmal vier) werden in der religiösen Überlieferung des Islam mehrfach genannt. Ein weiteres Argument für die Verbindlichkeit der Beschneidung gründet auf der Überlieferung, dass mehrere Propheten (Adam, Sit, Noah, Sam, Idris, Moses, Salih, Lot, Josef (Sohn von Jakob), Salomon, Yahya, Jesus und Muhammed) bereits beschnitten zur Welt gekommen seien und dass dieses „natürliche Beschnittensein“ ein Merkmal für ihre prophetische Berufung sei. Das islamische Recht (fiqh) wägt ebenfalls zwischen dem Schaden durch einen Eingriff, der Schmerz zufügt, und dem religiösen Nutzen der Beschneidung ab, kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass der religiöse Nutzen größer sei. Zwei Rechtsschulen des Islam (Ebu Hanifa und Malik-i) qualifizieren die Beschneidung als die Beschneidung als einen auf die Sunna zurückzuführenden Akt der Gottesverehrung, dessen Unterlassung „ungehörig“ ist (Sünnet-i müekkede). Für die beiden anderen (Hanbeli und Safi-i) ist die Beschneidung eine gebotene Handlung (Vacib), die nicht zu den fünf Säulen, also zu den ausdrücklich im Koran gebotenen Handlungen (farz) gehört, aber verbindlicher ist als die empfohlenen Handlungen (müstehab) oder gar die frei gestellten Handlungen (mubah).
Die hier dargelegten Ansätze einer historisch-kritischen Reflexion zu den einer Beschneidung zugrundeliegenden religiösen Traditionen sollte die im ersten Teil angesprochene ideologische Dichotomisierung des Konflikts in einen Gegensatz traditionsgebunden-religiös versus modern-religionskritisch infrage stellen und zumindest aufzeigen, wie differenziert und verzweigt die hinter dem Ritual liegenden religiösen und/oder kulturellen Traditionen sind. Trotz der sehr unterschiedlichen religiösen Bedeutung der Beschneidung in Judentum und Islam hat sie in beiden Religionen einen hohen Stellenwert, der eine Entscheidung der Eltern dafür oder dagegen keineswegs frei stellt oder gar beliebig macht. Im Judentum ist die „Brit Mila“ DAS zentrale Ritual der Aufnahme und somit auch der Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft. Dennoch existiert gerade im Judentum eine Bewegung, die eine „Brit Mila“ als „barbarisches Ritual“ betrachtet und mit der reinen Namensgebung eine „moderne“ Alternative dazu praktiziert. Des Weiteren zeigt die historische Reflexion, dass Beschneidungsverbote seit der Antike zentrales ideologisches Motiv sowie politisches Instrument der Judenfeindschaft und – seit der Neuzeit – des religiös-ideologischen Antijudaismus wie Antisemitismus waren. Sie lassen sich deshalb niemals als „religionsneutral“ betrachten. Ihre abendländische kulturgeschichtliche Konnotation schwingt immer mit. Der Deutsche Bundestag hat die Bundesregierung beauftragt, einen gesetzlichen Rahmen für eine legal durchzuführende Beschneidung zu schaffen. Inzwischen hat Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger die Eckpunkte einer gesetzlichen Regelung vorgelegt, und die Beschneidung sollte unter vier Voraussetzungen gesetzlich erlaubt sein: a) Der Eingriff müsse nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden. In der Regel solle er von einem Arzt durchgeführt werden, innerhalb der ersten sechs Lebensmonate könne er aber auch von geschulten, durch die Religionsgemeinschaft ermächtigten Personen vorgenommen werden; b) dem Eingriff müsse eine umfassende Aufklärung sowie die Einwilligung der Eltern vorangehen; c) der Kindeswille müsse – soweit möglich – mit einbezogen werden und d) Risken, die das Kindeswohl gefährden bzw. verletzen wie Bluterkrankheit bedingten eine Ausnahme von der Erlaubnis zur Beschneidung. Dieser Schritt zeugt m.E. von jener nötigen Sensibilität im Umgang mit dem Grundrechtskonflikt, die das Recht auf Religionsfreiheit nicht von vornherein zu einem nachrangigen, „bedingten“ Menschenrecht werden lässt, das erst gelten sollte, wenn es nicht mit anderen „modernen“ Freiheitsrechten in Konflikt gerät. Denn gerade die Religions- und Weltanschauungsfreiheit von Minderheiten ist m.E. gerade in einer Demokratie, in der Antisemitismus und Nationalsozialismus Teil ihrer Geschichte sind, ein sensibles und hohes Gut.
(Aktualisierte Fassung eines Artikels der im aktuellen Salzburger Menschenrechtsbericht der Plattform für Menschenrechte erscheint)
[i] Das Urteil bezieht sich auf das deutsche Strafgesetz: „Der äußere Tatbestand von § 223 Abs. 1 StGB ist erfüllt. Nicht erfüllt sind die Voraussetzungen von § 224 Abs. 1 Nr. 2, Alternative 2 StGB.“
[ii] Urteil, Landgericht Köln, 1. kleine Strafkammer, Aktenzeichen 151 Ns 169/11. Das Gericht lehnt in seinem Urteil auch das Argument der „Sozialadäquanz“ als unzutreffend ab.
[iii] Es berechtigt die Israelitische Religionsgesellschaft, „Kinder und Jugendliche auch außerhalb der Schule durch alle traditionellen Bräuche zu führen und entsprechend den religiösen Geboten zu erziehen“. (Gesetz vom 21. März 1890, betreffend die Regelung der äußeren Rechtsverhältnisse der israelitischen Religionsgesellschaft. StF: RGBl. Nr. 57/1890).
[iv] Ebda.
[v] http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/17/17189.pdf.
[vi] http://www.ethikrat.org/presse/pressemitteilungen/2012/pressemitteilung-09-2012/.
[vii] Nur Ex. 12,44 spielt auf die Beschneidung an und Lev. 12,3 erwähnt sie in Zusammenhang mit den Reinigungsvorschriften für die Frau nach der Geburt eines Sohnes.
[viii] http://www.wupj.org/News/NewsItem.asp?ContentID=587.
[ix] Yael Deusel: Beschneidung und jüdische Identität. In: Positionen der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (http://a-r-k.de/britmila/).
[x] „We are a group of educated and enlightened Jews who realize that the barbaric, primitive, torturous, and mutilating practice of circumcision has no place in modern Judaism.“ (http://www.jewsagainstcircumcision.org/)
[xi]Léon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus Bd. II, Worms 1978, S. 67, Fußnote 32.
[xii] Vgl.:Yitzhak Arad: The Holocaust in the Soviet Union. Lincoln/Nebr. – Jerusalem 2009 und Timothy Snyder: Bloodlands. München 2011.
[xiii] „Sag: Allah hat die Wahrheit gesagt. Darum folgt der Religion (milla) Abrahams, eines Haniefen, – er war kein Heide.“ (Koran Sure 3, 95)
[xiv]Sahih
Muslim: Buch 2, Nummer 495, 496.