Dem Tod kann man oft begegnen, wenn man will. Am einfachsten ist es am Friedhof, aber auch jede Gedenktafel an einer Hausmauer ist ein Hinweis auf den Tod. Dazwischen aber ist das pralle Leben – bunt, laut und in Bewegung. Aber es gibt Orte und Landstriche, in denen der Tod die Hauptrolle spielt. Wo sich hinter einem Hügel ein Gräberfeld zeigt, hinter einem Baumstamm Mauerreste und sanfte bemooste Erhebungen der Aushub von Schützengräben sind. Dann ist man rund um Verdun unterwegs, DAS Schlachtfeld des 1. Weltkrieges. DER Stellungskrieg schlechthin. DIE Erprobung von Giftgas. Viele Tote, sehr viele Tote, über 300.000 starben hier und noch einmal so viele entkamen dieser Hölle verletzt.

Ich bin das erste Mal in Verdun und Umgebung. Es ist kein sonniger Tag und es sind nur wenige TouristInnen unterwegs. Wo sich im Sommer Bus an Bus am Parkplatz der Gedenkstätte Douaumont reiht, herrscht gähnende Leere. Nur wenige sind unterwegs zwischen den tausenden Gräbern und im Mahnmal mit dem wunderbaren Licht, im Untergeschoss die Gebeine von Zigtausend Soldaten eingelagert. Unwirklich alles. Das Licht, die Knochen, die vielen Namen, die unendlichen Reihen an Gräbern, davor jeweils eine Rose gepflanzt. Die Namen der Soldaten mit ihrer Funktion und ihrem Sterbetag und natürlich dem Grund des Todes: Mort pour la France. Diese jungen Männer sind als Helden gestorben. Ein paar Kilometer weiter am Friedhof der deutschen Soldaten auch Gräber. Auch Namen, Funktionen und Sterbedaten. Aber niemand ist für etwas gestorben. Die Soldaten hier sind einfach „gefallen“. Fast 100 Jahre später denke ich mir, wie traurig das ist. Ein großer Krieg, beschlossen von der großen Politik. Und hier in Verdun starben die einfachen Soldaten für die Planspiele der großen Feldherrn in Berlin, Wien, Paris, London, Moskau. Machtgier. Krieg.

In Verdun kamen alle erdenklichen Waffen zum Einsatz, vom Bajonett über das Maschinengewehr bis zu Flammenwerfern und Giftgas. Bis zu 10.000 Granaten und Minen gingen stündlich auf den Schlachtfeldern nieder, ohrenbetäubend. Verdun wird als „Blutpumpe“, Knochenmühle“ oder schlicht als „Hölle“ bezeichnet. Die Berichte der Soldaten sind fast unerträglich zu lesen, für mich unvorstellbar, wie jemand so etwas überleben kann. Oft Wochen knietief im Schlamm und im menschlichen Kot, ständig unter Beschuss im Schützengraben kauernd. Wenn der Nachschub Verspätung hatte blieb den Männern oft nichts anderes übrig als Ratten zu essen und den eigenen Urin zu trinken. Junge Männer, die noch kurz vorher ein normales Leben führten, arbeiteten, sich verliebten, gerade geheiratet hatten, sich auf ein Kind freuten. Monate später landeten sie in den Schützengräben von Verdun. Historiker haben die durchschnittliche Überlebensdauer eines Soldaten ausgerechnet: 2 Wochen. Grauenhaft. Krieg.

Aber nicht nur die großen Gedenkstätten lehren einen hier den Krieg zu fürchten.

 

Es geht weiter durch die Wälder. Und dann tauchen sie plötzlich auf die verlassenen Dörfer. So wie Ornes. Die Kirche ist eine Ruine, man wähnt sich in einer antiken Stätte, wären da nicht die herbstlichen Laubbäume rundherum. Oder wie im Ort Louvemont die Tafel mit den Namen der Bürgermeister, die bis heute diesen verlassenen Orten vorstehen. Ich gehe durch die Kirche von Ornes, klettere über eine Mauer, dahinter der tiefe Wald. Die Bäume wachsen auf unterschiedlichen Ebenen, denn die Granatlöcher sind noch zu erkennen. Da ist noch eine Mauer. Vielleicht spaziere ich gerade durch das Wohnzimmer einer französischen Familie, die noch vor 100 Jahren hier friedlich beisammen saß. Bis der Krieg nach Verdun kam und ihr Dorf zerstörte. Und nie wieder besiedelt werden konnte, weil noch überall Blindgänger lauern und das Giftgas die Erde verseuchte. Mir kriecht die Kälte die Beine hinauf, es ist unheimlich. Still, bedrückend und dazu der unnatürlich gewachsene Wald, die Reste der Kirche. Schauerlich. Krieg.

Heute lebt Verdun vom Gedenken an die „berühmteste Schlacht“ des Ersten Weltkrieges. Eine Million TouristInnen kommen und besichtigen die Schlachtfelder, die berühmten Forts mit ihren Heldengeschichten und die Dörfer und Friedhöfe. Und wenn man eine Erinnerung mit nach Hause nehmen will, kann man zwischen Zinnsoldaten, Kaffeetassen, Soldatenschneekugeln und diversen Miniwaffennachbauten wählen. Geschäftssinn. Nach dem Krieg.

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Es gibt auch Hoffnung. Die fast einjährige Schlacht um Verdun war auch einer der Gipfel des Hasses zwischen Frankreich und Deutschland. Und erst im September 1984 standen beim Beinhaus von Douaumont zwei Männer minutenlang händchenhaltend vor den Gräbern von tausenden Soldaten: Präsident Mitterand und Bundeskanzler Kohl

“ Wir haben uns versöhnt, wir haben uns verständigt, wir sind Freunde geworden.“

Die Kriege gehen weiter, das Grauen ist für die Menschen das Gleiche geblieben. Mögen die heutigen Schlachtfelder im Irak, in Syrien, im Kongo, im Sudan, in Afghanistan bald Gedenkstätten sein und dem Frieden weichen. Diese Hoffnung habe ich.

Friedemann Derschmidt erzählt uns, warum es wichtig ist, die Vergangenheit NICHT ruhen zu lassen:

a1In der Sendung Nachtquartier auf Ö1 in der Nacht vom 2. Auf den 3. April überraschte mich der Redakteur Alois Schörghuber mit der Frage: Warum sollte jemand Unangenehmes erinnern? Ich hab in der Kürze nicht gut pariert und erst nach der Sendung war mir die Antwort klar:

Weil es überlebensnotwendig ist! Ein Schmerz dient dazu zu lernen. Da gibt es das klassische Beispiel vom Kind das auf die Herdplatte greift. Ohne Schmerzempfinden würde es das immer wieder tun und sich letztendlich existenziell in Gefahr bringen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es in der österreichischen sogenannten „Mehrheitsgesellschaft“ (ich mag das Wort nicht) vollkommen an Schmerzempfinden für die Verbrechen der NS-Zeit mangelt. Schon spricht man vom Kriegstrauma und den Kriegskindern und Enkelkindern (zu denen ich auch zähle) aber völlig ideologiebefreit, als ob es sich um unveränderliches Schicksal gehandelt habe (die Nazis liebten ja das Wort Vorsehung).

a3Vilem Flusser beschreibt in seinem Buch „Nachgeschichte“, dass Auschwitz, das in seinem Text für die nationalsozialistische Ideologie und das gesamte darauf basierende System steht, nicht ein Unfall, sondern eine logische Konsequenz unserer Kultur darstellte:

“Nicht das Ereignis selbst, sondern unsere ganze Kultur steht in Frage, nämlich in der Frage: Wie kann man in einer derartigen Kultur weiterleben, jetzt, nachdem sich gezeigt hat, wozu sie fähig ist? Alle Ereignisse in Wirtschaft, Politik, Technik, Kunst, Wissenschaft und Philosophie sind von unserem unverdauten Wissen von Auschwitz unterhöhlt. […] Das Ereignis ist unverdaut, weil wir unfähig sind, ihm ins Gesicht zu sehen, also zuzugeben, dass Auschwitz kein Verbrechen im Sinne eines Regelbruchs war, sondern dass die Regeln unserer Kultur dort konsequent angewandt wurden. Die Nazis errichteten das Vernichtungslager aus reinen Motiven. Sie erwarteten keinen Erfolg davon, im Gegenteil, sie nahmen Verluste in Kauf (zum Beispiel ihre Niederlage). Und ihre Opfer haben in Selbstverleugnung daran mitgearbeitet, ganz so, als seien sie von der ‚Unerlaubtheit‘ jeder Alternative – Flucht, Revolte, passiver Widerstand – überzeugt. Die Nazis folgten den für den Westen edelsten Motiven. Sie verhielten sich wie ‚Helden‘, ‚reine Künstler‘, ‚für Ideen Engagierte‘. Dasselbe taten die Juden. Sie a5verhielten sich wie ‚Heilige‘, ‚Märtyrer‘, ‚Gerechte‘. Und beide verhielten sich zueinander in Hingabe: Die Nazis lebten in Funktion der Juden und die Juden in Funktion der Nazis. Auschwitz war ein perfekter Apparat, der nach den besten Modellen des Westens hergestellt worden war und funktionierte. Diese meine Worte rufen Empörung hervor, das heißt, wir sind unfähig, sie hinzunehmen. Deshalb mobilisieren wir dagegen Argumente. […] Das ist das Monströse an Auschwitz. Alle Untaten der westlichen Gesellschaft gegen sich selbst und die restliche Menschheit (und sie sind Legion) können als Verbrechen gegen die westlichen Modelle angesehen werden, als unchristlich, inhuman, unvernünftig. Aber Auschwitz lässt sich nicht auf diese Weise wegerklären. Dort hat unsere Kultur ihre Maske abgeworfen. Sie hat gezeigt, dass sie zu verwerfen ist. Nur kann man die eigene Kultur nicht verwerfen. Sie ist der Boden unter den Füßen. […] Variationen zum Thema ‚Vernichtungslager‘ können allerorts im Ansatz beobachtet werden. Überall schießen Apparate wie Pilze aus dem morsch gewordenen Boden, wie Pilze nach dem Auschwitzer Regen. Zwar ähneln sie äußerlich nicht dem polnischen Lager, und die ‚Motive‘, denen sie angeblich gehorchen, sind andere Ideologien als die der Nazis.

a2Angeblich dienen sie nicht der Vernichtung der ‚Bürger‘. Aber sie sind alle von der gleichen Bauart. […] Sie funktionieren alle aus innerer Trägheit, und ihre Funktion ist Selbstzweck. Und sie müssen alle, letzten Endes, zur Vernichtung – wenn auch nicht notwendigerweise zur Vergasung, so doch zur Entmenschlichung – ihrer Funktionäre führen. Diese Apparate sind im Programm des Westens angelegt. Die dem Westen eigene Fähigkeit, alles zu objektivieren, das heißt, Dinge und Menschen aus objektiver Transzendenz zu erkennen und zu behandeln, führte im Verlauf der Geschichte zur Wissenschaft, zur Technik, letzten Endes zu den Apparaten. Die totale Verdinglichung der Juden durch die Nazis, die konkrete Verwandlung der Juden zu Asche, ist nur die erste der möglichen Verwirklichungen dieser Objektivität, nur die erste und darum noch brutale Form der ‚sozialen Technik‘, die unsere Kultur kennzeichnet. Wenn wir vor ihr die Augen verschließen, werden sich in Zukunft die Apparate verfeinern. Aber sie werden bleiben, was sie ihrem Wesen nach notwendigerweise sind: Instrument zur Verdinglichung des Menschen, das heißt eben Vernichtungslager. […] Wenn wir trotzdem fortschreiten, dann tun wir dies ‚bösen Glaubens‘. Wir haben den Glauben an den uns tragenden Boden, an uns selbst verloren. Unsere Geschichte ist zwar noch nicht am Ende, aber von jetzt an ist sie eine üble Geschichte.” (5)

Die von mir oben angesprochene Absenz des Schmerzempfindens für die Verbrechen und die von Flusser hier angesprochenen Apparate sind für mich sehr bedrohlich, insbesondere wenn ich mir die aktuellen politische Situationen in den verschiedensten europäischen und nichteuropäischen Ländern vor Augen führe – kombiniert mit der aktuellen Flüchtlingskatastrophe und und und.

Ich glaube, dass der einzige Weg darin besteht, sozusagen ganz vor der eigenen Tür zu kehren zu beginnen und der Anfang besteht nun mal im Sichtbarmachen dessen, was ich etwas augenzwinkernd „ideologische Vererbungslehre“ genannt habe – obwohl das natürlich alles nicht lustig ist.

(5) Flusser, Vilém. Der Boden unter den Füßen. In: Nachgeschichte. Frankfurt am Main: Fischer, 1997, S. 11–16.

Friedemann Derschmidts Buch gibt es hier: Sag du es deinem Kinde

Ein besonderes Projekt ist das „2 Familien Archiv“:  Two Families Archive

Hier geht es zu den ersten beiden Teilen:

Sag du es deinem Kinde 1

Sag du es deinem Kinde 2

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Patriarch Ignatius Aphrem und emeritierter Erzbischof Alois Kothgasser

Es passiert nicht oft, dass man bei einem besonderen Moment dabei sein darf, der sehr viel Geschichte atmet. Ich hatte das Glück. Heute hat die katholische Fakultät der Universität Salzburg einen Lehrstuhl für „Syrische Orthodoxe Theologie“ eingerichtet. Erstmals außerhalb des Nahen Ostens und erstmals können Priester, Mönche und LehrerInnen außerhalb von Klostermauern ausgebildet werden. Finanziert von der Erzdiözese Salzburg und der Bischofskonferenz. Undenkbar noch vor 100 Jahren, dass Ökumene so möglich ist. Die Festredner von Dekan Winkler bis zu Patriarch Ignatius Aphrem sprechen von einem Zeichen der Solidarität mit den Schwesterkirchen. Das ist besonders wichtig in unserer aktuellen Situation. Der syrisch orthodoxe Patriarch spricht vom Exodus der Christen aus dem Nahen Osten. Alleine in Syrien gibt es jetzt 40% weniger Christen, im Heiligen Land, in der Türkei, im Irak, überall schwindet die christliche Bevölkerung. Die Kirche ist nicht gebunden an ein Land, aber es braucht Orte, wie hier in Salzburg, an dem das religiöse und kulturelle Erbe weitergelebt wird, so der Patriarch. Auch die Sprache Aramäisch, die laut TheologInnen die wahrscheinliche Sprache Jesu war.

Während der Zeremonie in der großen Aula der Salzburger Universität musste ich immer an meine Reise nach Edessa denken, das heutige Sanliurfa, fünftheiligste Stadt des Islam. Abraham soll hier geboren sein. Und es ist die Wiege der Syrisch-Orthodoxen Kirche, hier sollen Reliquien des Apostel Thomas liegen, der bis Indien gekommen, um zu missionieren. Und hier ist in der Antike eine bedeutende theologische Schule entstanden, ein Zentrum christlichen und nichtchristlichen Wissens:

Ich erinnere mich gerne an die Reise, die wunderbare Landschaft rund um Sanliurfa im Südosten der Türkei an der syrischen Grenze. Hier findet sich der älteste Tempel der Welt, genannt Göbekli Tepe, laut Archäologen 11.000 Jahre alt! Es ist hier fruchtbares Land, in der Antike als Teil Mesopotamiens, in der Nähe des Euphrat. In der Stadt waren Türken, Araber und Kurden. Die Menschen, ihre Religionen, Kulturen und Sprachen mischen sich. Im Kaffeehaus ist von jedem Nachbartisch eine andere Sprache zu hören. Multikulturell nennt man das. Aber es geht verloren, in der Türkei, im Irak in Syrien. Umso wichtiger ist es Teile davon zu bewahren, weiter zu tragen, auch hier in Salzburg, an der Universität.

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Friedemann Derschmidt

Ahnen- und Familienforschung ist im Trend der Zeit. Was wenn aber jemand in seinem 8. oder neunten Lebensjahr damit durch neugierige Fragen begonnen hat? Und viele Familienangehörige miteinbezieht? Und damit auch aneckt? Dadurch an künstlerischer Kraft gewinnt? Dann ist es Friedemann Derschmidt.

In Teil 1 hat uns Derschmidt erzählt wie alles begann als er 8 oder 9 Jahre alt war, zu lesen hier:

Sag du es deinem Kinde 1

Was uns jetzt interessiert ist, wie es die Familie aufgenommen hat? Ob es Ängste und Widerstände gab?

Friedemann Derschmidt:

f5Selbstverständlich! Es gab anfangs mal eine große Verstörung. Meine vermeintliche Unterstellung mit dem Vererbungsexperiment. Der Tabubruch über diese Dinge überhaupt zu reden. Die Chuzpe am Familienmythos zu kratzen usw. Nur einige wenige, denen ich aufrichtig dankbar bin, haben verstanden. Sie haben sich demonstrativ an meine Seite gestellt. „…ich danke Dir für Deine Initiative, die ich vollinhaltlich unterstütze. Es hat mehr als 65 Jahre gedauert, ehe offen über die „dunkle Seite“ der Familie gesprochen werden kann. Es ist Dein Verdienst, dass Du dieses Tabu in einem – zunächst geschützten Rahmen – brichst. Tabuverletzungen werden mit Sanktionen bedacht. Diese bin ich bereit mit Dir zu teilen. Ich hoffe sehr, dass sich viele der Nachfolger des Heinrich Reichel an diesem Experiment beteiligen.“

Aus einem der ersten Postings am Weblog mit dem Titel „für schonungslose Transparenz“ von Dietmar Weixler, der auch einen Beitrag im Buch hat, in dem er zum Thema „Arzt sein als Urenkel des Rassenhygienikers Heinrich Reichel“ schreibt. Und es gab harsche Reaktionen (4): Ein Cousin meines Vaters schrieb einen offenen Brief an alle Familienmitglieder, in dem er mich aufforderte, die Website auf der Stelle zu schließen, und die Verwandten dazu aufrief, mich zu boykottieren. f3Bei einem Familienfest sprach ich ihn an und bat ihn, direkt mit mir zu reden, statt offene Briefe zu schreiben. Ich fragte ihn, was sein Problem sei. Er forderte daraufhin von mir: „Nimm das Bild mit den Männern in Naziuniform, die vor meinem Haus stehen, aus dem Internet.“ Ich fragte ihn, ob er vergessen habe, dass „diese Männer“ sein Vater und seine Onkel seien. Es entspann sich ein Dialog über „soldatische Pflichterfüllung“ und wir kamen auf Widerstandskämpfer zu sprechen. Er meinte daraufhin: „Während die anderen anständig die Heimat verteidigt haben, sind ihnen diese sogenannten Widerstandskämpfer in den Rücken gefallen.“ Mein Vater war inzwischen zu uns gestoßen und antwortete statt mir: „Was meinst du mit ‚Heimat verteidigen‘? In Stalingrad vielleicht?“ Ich musste den Raum verlassen, um Luft zu holen. Als ich zurück kam, war nur mehr mein Vater da und sagte sehr verstört: „Dieser Rassist hat mir soeben erklärt, du wärst von den Juden gekauft worden, um die Familie zu zerstören.“

Auftritte und Briefe, wie die von jenem Cousin meines Vaters, haben eher dazu geführt, dass einige Mitglieder der Familie ihre Reserviertheit gegenüber dem Projekt aufgaben und dem Projekt nähertraten. Dennoch werde ich immer wieder attackiert, da es wie immer leichter fällt, dem Überbringer der schlechten Nachricht die Schuld an der Nachricht selbst zu geben. Das Projekt löst bei vielen sehr negative Gefühle und Energien aus, mit f6denen ich konfrontiert werde. Umso mehr brauche ich dann den Zuspruch von Menschen, die das Projekt unterstützen und sich nicht scheuen, Unangenehmes zu konfrontieren. Ich wurde während des Zusammenstellens dieses Kapitels darauf angesprochen, warum hier fast nur Texte zu finden sind, die von Leuten stammen, die dem Projekt eher positiv gegenüberstehen. Tatsächlich gibt es auch genug Texte, die das Projekt ablehnen und angreifen. Interessant ist, dass bei Anfrage die VerfasserInnen selbst die Veröffentlichung dieser Texte ablehnten oder ich in anderen Fällen von Verwandten gebeten wurde, Texte nicht zu veröffentlichen, weil deren AutorInnen psychische Probleme hätten oder überhaupt psychisch krank seien. Ich weiß von einigen wenigen Familienangehörigen, die tatsächlich mit schwerwiegenden mentalen Problemen zu kämpfen haben, und ich will das sicherlich nicht pathologisierend in dieses Projekt hineinvermischen. Andere sind für mich jedoch schlichtweg nicht mutig genug, sich ihren eigenen Ambivalenzen und der Diskussion über dieselben zu stellen.

wird fortgesetzt…

Friedemann Derschmidts Buch gibt es hier: Sag du es deinem Kinde

Ein besonderes Projekt ist das „2 Familien Archiv“: Two Families Archive

(4) aus Buch Sag.D.e.D.Kinde im Kapitel „Reaktionen der Familie“

Ahnen- und Familienforschung ist im Trend der Zeit. Was wenn aber jemand in seinem 8. oder neunten Lebensjahr damit durch neugierige Fragen begonnen hat? Und viele Familienangehörige miteinbezieht? Und damit auch aneckt? Dadurch an künstlerischer Kraft gewinnt? Dann ist es Friedemann Derschmidt. Aber überlassen wir ihm selbst das Wort und fragen ihn, wie es begonnen hat, ob es ein ausschlaggebendes Erlebnis gab?

Friedemann Derschmidt:

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Friedemann Derschmidt

Als etwa acht- oder neunjähriges Kind stand ich vor der Stammtafel in der Wohnung meiner Großeltern. Mir fiel natürlich als Besonderheit auf, dass da meine Großmutter und ihre acht Geschwister in sehr eigentümlicher Weise abgebildet waren. Jede Person war einmal von vorne, einmal im Profil und einmal im Halbprofil dargestellt. Das war erstaunlich – vor allem aber bemerkte ich, dass bei einem, nämlich dem Zwillingsbruder meiner Großmutter, nur eines dieser drei Bilder vorhanden war. Das regte mich an, zu fragen: „Großmutti, warum haben hier alle drei Bilder, nur der hier hat nur eines?“ „Weißt du, die anderen beiden Bilder haben wir abgenommen, das war nach dem Krieg zu gefährlich.“ „… aber warum gefährlich?“ „Da hatte mein Bruder eine SS-Uniform an.“ „Aha …“ (Damals wusste ich nicht, was das bedeutete.) „… aber warum kenn′ ich den nicht? Die anderen kenn′ ich ja mehr oder weniger.“ „Weißt du, der ist damals in Russland erschossen worden“, und nach einer kurzen Pause: „Das war wahrscheinlich auch besser so.“

Bin ich wer Besonderer?

In den späten 1960er- und den frühen 1970er-Jahren wurde ich in einer bekannten oberösterreichischen Großfamilie in dem Bewusstsein erzogen, etwas „Besonderes“ zu sein. Worin diese Besonderheit bestehen sollte, war unklar. Über die Jahre und nicht ohne die Hilfe einiger kritischer Mitglieder der Familie fand ich heraus, dass in der Großfamilie ein sehr komplexes Gespinst aus Mythen, Legenden und Lügen über die Vergangenheit und die Generationen der Großeltern und Urgroßeltern gewoben worden war. Ich erkannte, dass auch Menschen, die mir emotional sehr nahestanden, aktiv an dieser Selbstverherrlichung der Großfamilie teilhatten und teilweise daran bis heute festhalten. Innerhalb dieses Kokons aus Geschichten wurde mir schrittweise immer klarer, dass nicht wenige Familienmitglieder aktive und begeisterte Nazis gewesen waren. Von diesen waren viele NSDAP-Mitglieder, einige sogar hohe Offiziere bei SS und SA gewesen und manche hatten während des Dritten Reiches durchaus einflussreiche Positionen in allen Sparten der Gesellschaft bekleidet.

fd4Ich begann Interviews mit Verwandten zu führen und eine ungeheure Fülle an Material zu sammeln. Das war der Zeitpunkt, der mich zu einer Art Familienchronisten machte. Dennoch hatte ich vorläufig nicht die geringste Ahnung, was ich mit all der Information anstellen sollte. In dem, was ich als „das System der Familie“ bezeichne, spielte mein Urgroßvater offensichtlich eine zentrale Rolle. Er war Arzt und Universitätsprofessor und ein nicht unbekannter Vertreter der Eugenik in Österreich. Seinen Studierenden bläute er ein, dass Familien- und Ahnenforschung ein wichtiges Werkzeug der – wie es damals hieß – „Rassenforschung“ sei und dass es von großer Wichtigkeit sei, viele Kinder zu zeugen und aufzuziehen. Er war Gründungsmitglied des „Reichsbundes der Kinderreichen“ und ging selbst mit bestem Beispiel voran. Dies wurde in der Folge zum Angelpunkt meines Projektes. Selbst heute noch fühlt sich eine Mehrzahl meiner Verwandten auf die eine oder andere Weise der Idee der Großfamilie verpflichtet. Gemeinsam mit meinem Cousin Eckhart Derschmidt veröffentlichte ich im Oktober 2010 eine Internetplattform auf der Basis von Web 2.0 und forderte die Familienmitglieder auf, sich daran zu beteiligen. Der Text der Startseite war zugegeben sehr provokant formuliert und verfehlte daher nicht seine Wirkung. Er lautete sinngemäß so: „Hat der Eugeniker Dr. Heinrich Reichel zu Beginn des 20. Jahrhunderts sein ganz persönliches Vererbungsexperiment gestartet? Schließlich hat er neun Kinder, 36 Enkelkinder und über 80 Urenkel usw. Sind wir das Ergebnis eines genetischen Versuches? Lasst uns dieses Experiment evaluieren …“

Die Spiegelung des Urgroßvaters

Ich versprach den Familienmitgliedern (1), die Internetseite zwei Jahre lang geschlossen zu führen (2010–2012). Von der Gesamtzahl aller Familienmitglieder (kleine Kinder und alte Leute, die keinen Computer benützen, mitgezählt) traten im Zuge eines sehr schwierigen und schmerzhaften Prozesses bis dato etwa ein Drittel als User bei.

Ironischerweise wurde ich zu einer Art Gegenspieler meines Urgroßvaters. Wie in einer Spiegelung tue ich eigentlich jetzt genau das, was er verlangte: nämlich Familienforschung. Im Gegensatz zu ihm interessiert mich die genetische Weitergabe innerhalb des von den Eugenikern so genannten „Erbstroms“ nicht im Geringsten. Ich versuche hingegen, die Weitergabe von Weltanschauungen, Ideologie und politischen Haltungen über sechs Generationen in dieser bürgerlichen Großfamilie zu thematisieren. Daraufhin begann ich, HistorikerInnen, SoziologInnen, PsychologInnen und andere ExpertInnen zu kontaktieren. Ich lud sie ein, unserem Projektbeirat beizutreten. In der Folge wurde die Projektdatenbank durch eine Vielzahl von Dokumenten aus Archiven, theoretischen Texten und anderen Materialien angereichert.

Im Zusammenhang mit einem anderen meiner Projekte war ich im Jahr 2011 zu einem Vortrag nach Leipzig eingeladen. Beim Spaziergang durch die Stadt sprang mir bei der Gedenkstätte für die Große Synagoge folgende Inschrift ins Auge: „Hier wurde am 9. November 1938 die große Synagoge der israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig durch Brandstiftung faschistischer Horden zerstört. Vergesst es nicht.“ Ich fragte meinen Begleiter, wo denn diese „faschistischen Horden“ hergekommen und wohin sie danach wieder verschwunden seien. Für mich war diese Inschrift insofern sehr erhellend, weil sie etwas Grundlegendes über den Umgang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus in vielen Bereichen und über sehr lange Zeit aussagt.

fd5Für dieses Projekt ist es von großer Wichtigkeit, zu verstehen, dass die Nazis nicht wie eine Horde Wahnsinniger aus dem Nichts kamen und wieder darin verschwanden. Sie waren auch keine von außen auftauchenden „Anderen“, sondern kamen aus der Mitte der Gesellschaft: Die eigenen Väter und Mütter, Großeltern, Tanten und Onkel waren „die Nazis“. Wenn man einen Schritt zurücktut und mit diesem größeren Blickwinkel auch das 19. Jahrhundert mitbetrachtet, kann man am konkreten Beispiel dieser bürgerlichen Großfamilie gut aufzeigen, wie sich die vielen, oft sehr unseligen Wechselwirkungen zwischen Nationalismus, Jugendbewegung, Erneuerungs- und Reinheitsfantasien und nicht zuletzt moderner Wissenschaft usw. ergeben haben müssen.

Nicht einzigartig

Diese spezifische Familie ist diesbezüglich alles andere als besonders oder einzigartig. Das Projekt „Reichel komplex“ kann vielmehr als Modell für viele österreichische, deutsche und andere europäische Familien dienen, die in den Holocaust verwickelt waren. Für die jetzt lebenden Generationen geht es vermutlich weniger um Schuld als um Scham. Die Scham muss sich auch nicht notwendigerweise auf die (möglichen) Taten der eigenen Eltern oder Großeltern beziehen. Ich habe mittlerweile den Eindruck gewonnen, dass es sehr oft auch um die Frage geht, wie es sein kann, dass „mensch“ ein ganzes Leben lang nicht gefragt hat und nicht wissen wollte; oder dass sogenannte „Werte“ unhinterfragt weitergetragen und gepflegt wurden, die man dem österreichischen Nachkriegsnarrativ (2) konform in ihrer ideologischen Verfänglichkeit bagatellisierte oder für harmlos hielt und teilweise immer noch hält. Auch wenn ich in meine mütterliche Herkunftsfamilie blicke, finde ich dort weder NS-Opfer noch Widerstand, auch dort finden sich Fotos mit HJ-Uniformen, NSDAP-Mitgliedschaften, ein Gemisch aus völkisch-jugendbewegten Ideen, in diesem Fall kombiniert mit ausgeprägtem Katholizismus. Ja, selbst einen Wissenschafter hat die Familie Klebel zu bieten: Dr. Ernst Klebel (3), einen Historiker, der – man forsche nach – aus irgendeinem Grund nach 1945 einen Karriereknick gewärtigen musste. Der Briefbomber Franz Fuchs zitierte in seinen Bekennerbriefen ausführlich aus dessen Forschungen zu den „Bajuwaren“. Ich selbst jedenfalls werde trotzdem immer Teil dieses Systems bleiben, ob ich will oder nicht. Da gibt es kein Entkommen…

…wird fortgesetzt

Friedemann Derschmidts Buch gibt es hier: Sag es Du deinem Kinde

Ein besonderes Projekt ist das „Zwei Familien Archiv“: Two Family Archives

Anmerkungen:

(1) Ich bin dabei von meinem Urgroßvater und seinen beiden Brüdern Carl Anton und Friedrich ausgegangen. Berücksichtigt man deren unmittelbare Nachfahren inklusive ihrer PartnerInnen, sprechen wir von etwa 350 Personen.

(2) Siehe Margit Reiters Beitrag „Framework. Postnationalsozialistische Familien(re)konstruktionen im österreichischen Kontext“ in diesem Buch.

(3) Vgl. Ziegler, Wolfram. Ernst Klebel (1896–1961) – Facetten einer österreichischen Historikerkarriere. In: Hruza, Karel (Hg.). Österreichische Historiker – Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 2 (S. 489–522). Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2012.

von Josef P. Mautner

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Josef P. Mautner

Es ist Ende Mai. Das Wetter ist durchwachsen, könnte besser sein. Vor allem scheint es uns zu kalt für diese Jahreszeit. Ein nicht vorhandener Mai. Wir sind auf dem Weg nach Graz, aber 20 km vorher, in Deutschfeistritz, fahren wir von der Autobahn ab und suchen in der Wegbeschreibung aus dem Internet nach dem Ortsteil Prenning. Dort steht irgendwo ein Landhaus mit einer „Kulturpension“, in dem Leopoldine und ich die kommende Nacht verbringen werden. Ein Geschenkgutschein unserer Tochter hat uns hierhergebracht. Nach einigem Suchen und einmal Nachfragen – wir sind schon dran vorbeigefahren – landen wir in der „Kulturpension“. Es ist spät. Das nächste Wirtshaus in Deutschfeistritz weit – also bietet der Pensionswirt uns selbstgemachte Würste an, die er für uns heiß macht. Wir nehmen das Angebot dankbar an und setzen uns auf die Holzbank vor dem Hauseingang. Hier ist es windstill, und die Bank ist mit Schaffellen belegt. Da lässt sich’s aushalten im Freien, obwohl es nicht besonders warm ist. Wäre nicht die Autobahn, wäre man am Ende der Welt hier. Nimmt der Autolärm am Abend ab, dann kommt die Stille. In der Umgebung des Landhauses ist nichts als unsre Pension und ein verfallenes Nebengebäude. Ja, und Bäume, ein Teich und Schafe, die auf der Wiese gegenüber weiden. Zackelschafe sind es, erfahren wir vom Wirt. Eine alte ungarische Schafrasse, deren Fell als besonders wertvoll und wärmespeichernd gilt.

Familie Feuerlöscher

Im Internet las ich von einer Bibliothek, die von der Unternehmerfamilie Feuerlöscher im Landhaus angelegt wurde und die eine vollständige Sammlung der „Manuskripte“ beherbergen soll, jener legendären Grazer Literaturzeitschrift, die von Kolleritsch und Waldorf seit den sechziger Jahren herausgegeben wird und ein Sammelpunkt der österreichischen Avantgarde war und ist. Ich spreche unseren Gastwirt darauf an, und er sagt: Ja, darauf sei er besonders stolz. Die „Manuskripte“ seien tatsächlich vollzählig vorhanden; keine Nummer fehle. Aber darüber hinaus gebe es im Landhaus noch vieles Andere, das interessant sei – vor allem aus der Geschichte. Wenn wir wollten, könne er uns morgen das Haus zeigen. Heute sei es wohl schon ein wenig zu spät … Weiterlesen