Die Traumaforschung beschäftigt sich schon lange mit menschlichen Ressourcen, Quellen, die Menschen in schweren Lebensphasen helfen.[1] Verwandt damit ist die Forschung der Resilienz – der psychischen Widerstandskraft. Gemeint ist die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und sie durch Rückgriff auf Ressourcen als Anlass für Entwicklungen zu nutzen.Beides, die Ressourcen wie auch die Widerstandskraft, können und sollten zeitlebens auf- und ausgebaut werden.

Ich gebe in Seminaren zu Traumapädagogik gerne folgendes Beispiel aus einem Alltag:

„Stellen Sie sich vor:

Montag Morgen: Sie haben den Wecker überhört. Das bedeutet Stress, kein Frühstück und der Bus ist abgefahren. Sie stehen an der Haltestelle im Regen. Durchnässt kommen Sie im Büro an. Die Chefin rügt Sie, da Sie ein wichtiges Meeting versäumt haben. Das Kantinenessen verdient seinen Namen, die Kleidung ist auch am Nachmittag noch nicht vollends getrocknet. Sie machen Überstunden, um Liegengebliebenes aufzuarbeiten. Spät abends kommen Sie nach Hause – Ihr Partner/Ihre Partnerin ist sauer, weil Sie ins Theater wollten.

Welche Quellen haben Sie, welche, auch kleinen, Freuden, um aus diesem Tag noch ein gutes Ende zu machen?“

Teilnehmende haben viele Ideen:

  • eine Hunderunde im Finsteren
  • bügeln / kochen / putzen
  • singen / musizieren / Musik hören
  • Zärtlichkeit / Körperkontakt / Massage
  • einen guten Film downloaden
  • Katze… streicheln
  • ein gutes Glas Wein
  • Freund*in anrufen
  • Karten spielen

Und dann gibt es noch die vielen Freuden im Leben, auf die wir nicht ständig, dafür aber regelmäßig zugreifen können:

  • im Chor singen
  • eine neue Sportart ausprobieren
  • einen Tanz-/ Koch- / Keramik- / Fotografie-/ Mal-/ Sprachkurs belegen
  • regelmäßige Kino- oder Theaterbesuche
  • sich Wellness / Kosmetik / Massage gönnen
  • ausgedehnte Spaziergänge / Wanderungen
  • Reisen
  • ein Studium beginnen
  • sich ehrenamtlich engagieren
  • Freundschaften pflegen

Jedem Menschen kann jederzeit Schlimmes passieren.

Menschen, die auf viele Ressourcen zurückgreifen können, auf unterschiedlichste Lebensfreuden, bewältigen dramatische Lebensabschnitte besser.

Krisen als Chance im Leben wahrzunehmen, fällt leichter, je stärker die eigene Widerstandskraft gediehen ist.[2]

Das heißt wir sollten jetzt unsere Freuden pflegen. Für das Jetzt, den Alltag. Öfter mal etwas Neues ausprobieren – sich auf Unerwartetes einlassen und damit neue Kraftquellen erfahren.Und keine Ausreden gelten lassen! „Zeit und Geld“ sind solche Ausreden: viele Freuden brauchen nur kurze Minuten und sind völlig gratis.Ob aus einer dramatischen Situation eine traumatische entsteht, hängt oft mit der persönlichen Widerstandskraft zusammen.

Ich geh jetzt eine Hunderunde!

Beitrag von Gabriele Rothuber, System. Traumapädagogin & -Fachberaterin

[1] Salutogenese-Ansatz von Aaron Antonovsky
[2] Selbstverständlich sollten Sie professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, wenn Lebenskrisen nicht bewältigbar erscheinen und alltagsbeeinträchtigend für Sie sind

One Billion Rising ist eine Demonstration, bei der weltweit Frauen, Männer, Mädchen und Burschen durch die Straßen tanzen, gehen, singen und rollen. Gegen Gewalt an Mädchen und Frauen. Jede dritte Frau, jedes dritte Mädchen muss in ihrem Leben einmal oder öfter Gewalt erleiden: psychische und physische. Das sind eine Milliarde auf der ganzen Welt – One Billion Rising!

Salzburg hat die Demo erstmals am Abend veranstaltet. Das ist ein Zeichen, dass Frauen und Mädchen am Abend und in der Nacht keine Angst haben dürfen. Dass Frauen und Mädchen am Abend und in der Nacht auf der Straße unterwegs sein können.


Und eine Demo für eine ernste Sache, kann auch Spaß machen. Keine und keiner muss mit betroffenem Gesicht und gereckten Fäusten durch die Straßen ziehen. Demonstrieren im 21. Jahrhundert heißt: es mit Überzeugung und Freude zu tun. Für One Billion Rising gibt es einen wunderbaren mitreißenden Song, den heuer die Cheerleaders der Daisy Ducks eingetanzt haben: Break the Chain von Tena Clarke. Und so hat Salzburg getanzt:

Vor einigen Tagen haben Niki Solarz und ich unsere Forderungen zur Verhinderung von Genitalverstümmelung öffentlich gemacht. Wir haben sehr viele Rückmeldungen bekommen. Die meisten Menschen wollen uns unterstützen. Aber es gibt auch einige, die mit unseren Forderungen ein Problem haben.

Die Einwände will ich nicht einfach auf die Seite wischen, sondern mich nochmal damit auseinandersetzen.

Keine Kritik und Bedenken kamen zur Forderung, noch mehr zu informieren, die betroffenen Mädchen und Frauen aufzuklären und auch die Männer mit ins Boot zu holen. Auch die Sensibilisierung von Ärztinnen und Pädagogen ist von allen gewünscht.

Sollte sich der Verdacht auf eine Genitalverstümmelung bestätigen, müssen die verantwortlichen Erwachsenen konsequent zur Rechenschaft gezogen werden. Auch wenn die Tat im Ausland begangen wurde, ist sie in Österreich strafrechtlich zu verfolgen. Bis zum 28. Lebensjahr des Opfers ist die Tat nicht verjährt. Eine Genitalverstümmelung kann bis zu 10 Jahre Haft bedeuten.

Einige Menschen meinten, dass es nach der Verstümmelung nichts bringt die Eltern vor Gericht zu bringen und das Kind aus der Familie zu nehmen. Es sei ja schon passiert und könne nicht mehr rückgängig gemacht werden. Und wenn das Mädchen auch noch die Eltern verliert, dann wäre das wie ein zweites Trauma. Das hieße für mich die Genitalverstümmelung zu akzeptieren und das Opfer alleine zu lassen mit seinem Schmerz und seinem Leid.

Tradition oder das Recht auf körperliche Unversehrtheit?

Um einer Genitalverstümmelung vorzubeugen braucht es verpflichtende Untersuchungen von Mädchen zwischen 0 und 14 Jahren. Natürlich ist es nicht sinnvoll ALLE Mädchen zu untersuchen, es soll auf diejenigen beschränkt sein, in deren Kultur diese Tradition fast verpflichtend ist. So wie in Somalia, Ägypten, Sudan und anderen Ländern, wo die Beschneidungsrate über 80 Prozent liegt. Der Vorwurf bei dieser Forderung lautet, dass dies diskriminierend, wenn nicht sogar rassistisch ist. Eine Genitalverstümmelung in Österreich nicht zu verhindern, ist für mich Ignoranz und die eigentliche Diskriminierung. Die körperliche Unversehrtheit eines Mädchens muss über der Freiheit der Religion und der Traditionen stehen.

Auch der Vorwurf, dass damit wieder ein schlechtes Licht auf den Islam geworfen wird, ist nicht nachvollziehbar. Auch Christinnen und Jüdinnen werden in diesen Ländern beschnitten. Genitalverstümmelung ist ein grausames Verbrechen, welche Religion die Täterin/der Täter hat ist mir wurscht.

Wir müssen alle hinschauen

Was zum nächsten Vorwurf führt, warum wir eigentlich die Beschneidung von Jungen nicht genau so ablehnen und dagegen kämpfen. Weil das nicht vergleichbar ist. Dem Jungen werden weder der halbe Penis, noch die Hoden abgeschnitten. Er verliert seine sexuelle Empfindsamkeit nicht und kann normal zur Toilette gehen. Und es ist wichtiger und notwendiger die grausame Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung zu bekämpfen.

Wir haben schon zu lange weggeschaut. Wir haben viele Jahre darüber geredet, Broschüren erstellt und Aufklärungsveranstaltungen organisiert. Das ist und bleibt wichtig. Das hat aber nicht dazu geführt, dass es keine Genitalverstümmelung in Österreich mehr gibt. Wir brauchen präventive Kontrolle und strenge Verfolgung dieser Straftat. Für ersteres wird Niki Solarz im Salzburger Landtag einen Antrag stellen, damit die Untersuchungen zur Pflicht werden. Für zweiteres sind wir alle aufgerufen. Wir müssen hinschauen, beim geringsten Verdacht das Jugendamt einschalten. Nur so können wir wirklich etwas ändern.

Jedes Jahr denken die SozialdemokratInnen an die Opfer der Widerstandskämpfe 1934. Ihr Motto heißt: Niemals Vergessen.

Vor 83 Jahren war meine Großmutter so alt wie heute mein Patenkind: 11 Jahre. Die Zeit jetzt wird oft mit den 1930er Jahren verglichen. Politisch unsichere Zeiten, eine Wirtschaft, die immer wieder wankt und eine Gesellschaft, die Angst hat. Eine Angst, die täglich von der Politik befeuert wird. 1934 war ein Wendepunkt in der Geschichte Österreichs. 1933 wurde Österreich zur Diktatur, ein Jahr später versuchten mutige Menschen aus der Sozialdemokratie den Aufstand. Sie scheiterten. In den mehrtägigen Februarkämpfen verloren Hunderte ihr Leben. Auch in Salzburg gab es Widerstand gegen das Dollfuß-Regime. Einmal im Jahr versammeln sich die Mitglieder des Bundes Sozialdemokratischer Widerstandskämpfer am Hauptbahnhof und denken, an jene, die ihr Leben für die Freiheit, die Demokratie und die Gerechtigkeit gaben. 2017 hielt Michaela Fischer die Rede:

„Liebe Genossinnen, liebe Genossen,

am 12. Februar ist der 83. Jahrestag der Februarkämpfe, die im Jahr 1934 stattgefunden haben. Es war der Beginn vom vorläufigen Ende nicht nur der Sozialdemokratie sondern der Demokratie in Österreich. Der wirkliche Anfang liegt aber viel weiter zurück und der 12. Februar 1934 war nur das Ende einer jahrelangen Entwicklung hin zu einem totalitären faschistischen Staat, dem nur noch die Sozialdemokratie im Wege stand. Wir alle kennen die Geschichte und wie es dazu gekommen ist. Im von der Weltwirtschaftskrise erschütterten Österreich fand eine politische Polarisierung zwischen den Christlich-Sozialen und den Sozialdemokraten mit einem gleichzeitigen Aufschwung der Rechten, der Nationalsozialisten statt. Nach der Ausschaltung des Parlamentes im Jahr 1933 war der Weg für den Faschismus geebnet.

Gedenkversammlung am Salzburger Hauptbahnhof

Das Leben für die Demokratie geben

Die Sozialdemokratie als Widerstandsbewegung wurde in den Untergrund verbannt und nach und nach geschwächt. Der Republikanische Schutzbund wurde verboten, die Arbeiter-Zeitung einer Zensur unterworfen und Versammlungen und Demonstrationen verboten. Die nach wie vor legale Sozialdemokratische Partei wurde ihrer Betätigungsmöglichkeiten beraubt. Am 12. Februar 1934 fand dieser Kampf gegen die Sozialdemokratie schließlich seinen Höhepunkt und dieser letzte Widerstand der SozialdemokratInnen wird in die Geschichte eingehen. Die übriggebliebenen SozialdemokratInnen haben nicht kampflos aufgegeben. Sie haben sich bis zuletzt gewehrt und für ihre Ideale und Überzeugungen, für die Freiheit und Demokratie gekämpft und dafür ihr Leben gelassen. Nicht in ganz Österreich kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen, was aber nicht heißt, dass es keinen Widerstand gab. Vor allem die Eisenbahner widersetzten sich im Rahmen eines Generalstreiks.

In Salzburg standen viele Züge still

Und darum befinden wir uns auch hier am Hauptbahnhof bei der Gedenktafel zu Ehren der im Kampf gegen den Faschismus gefallenen Eisenbahner. Der Streik umfasste auch Salzburg. Hier wurde am 12. Februar das Heizhaus blockiert. Durch diesen Sabotageakt konnten zahlreiche Züge aus Salzburg bis zum nächsten Abend nicht mehr abgefertigt werden, weil keine Lokomotiven vorhanden waren. Die Kämpfe in ganz Österreich dauerten bis zum 15. Februar 1934 und endeten in einer blutigen Zerschlagung der Sozialdemokratie, in Hinrichtungen und Verhaftungen. Was danach gekommen ist, wissen wir alle. Doch was vergangen ist, ist vergangen, sagt man, doch das stimmt nicht ganz und hier möchte ich den Sprung in die Gegenwart machen.

Der Frieden ist in Gefahr

Wir leben seit Ende des zweiten Weltkrieges in Frieden, in Freiheit. Wir leben in einem Europa, das für Demokratie, die Achtung der Menschenwürde, die Wahrung der Menschenrechte und die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung steht. Doch schauen wir einmal nach links und rechts, etwa in die Türkei oder nach Russland, wo die demokratisch gewählten Präsidenten alle KritikerInnen kurzerhand verhaften und einsperren lassen, die Versammlungsfreiheit einschränken und die Medien einer Zensur unterwerfen und mundtot machen. Oder in die USA, wo der neu gewählte Präsident seine populistischen und rassistischen Wahlversprechen in die Tat umsetzt und ganze Bevölkerungsgruppen unter Generalverdacht stellt. Sein klar gegen die Verfassung verstoßendes Einreiseverbot wurde zwar aufgehoben, doch auch das hindert ihn nicht daran, weiter daran festzuhalten und sich über die Verfassung stellen zu wollen. Aber das ist alles so weit weg und betrifft uns nicht, könnte man sagen.

Marko Feingold ist der stete Mahner für Demokratie und Freiheit

Europa schwenkt nach rechts

Doch auch in Europa weht dieser Wind und erleben wir einen Aufschwung der Rechten. Etwa aktuell in Frankreich, wo Marine Le Pen mit ihrem hetzerischen und rassistischen Wahlkampf Spitzenwerte im Rennen um die Präsidentschaft prognostiziert werden. Doch wir müssen nicht einmal bis nach Frankreich schauen. Wir alle erinnern uns an den Präsidentschaftswahlkampf in Österreich, wo wir mit Schrecken miterleben mussten, wie der rechte Norbert Hofer mit seinen nationalistischen, rassistischen Äußerungen so weit gekommen ist. Gerade letzte Woche war der Akademikerball, bei dem in der Hofburg die rechten Größen Europas das Tanzbein geschwungen haben. In diesem Zusammenhang ließ es sich Innenminister Sobotka nicht nehmen Einschränkungen der Versammlungsfreiheit, eines Grundpfeilers der Demokratie, vorzuschlagen. Diese Entwicklung macht mir Sorgen und hier dürfen wir nicht schweigend zuschauen – wenn in Europa generell und auch in Österreich immer mehr menschenverachtende Aussagen getätigt werden und rassistische Hetze betrieben wird; nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand sondern öffentlich und mit tosendem Applaus.

Unsere Grundwerte sind in Gefahr

Wir befinden uns in einer schwierigen Zeit, in der wir den zwar einfachen aber nicht richtigen Antworten und Lösungen klar entgegentreten müssen. Wenn Menschen vor Terror und Krieg flüchten und um ihr Leben fürchten, darf nicht einfach zugeschaut oder weggeschaut werden. Doch vielmehr werden diese Menschen unter Generalverdacht gestellt und als Gefahr für unsere Grundwerte gesehen. Doch die Gefahr für unsere Grundwerte geht von jemand anderem aus. Wenn diesen Menschen die Hilfe versagt wird und denjenigen, die sich bereits in Österreich und Europa befinden mit Hass, Feindseligkeit und Missgunst begegnet wird, haben wir diese Grundwerte in Wahrheit schon aufgegeben. Wenn bei Fragen der Menschlichkeit, Solidarität und Loyalität zwischen „uns“ und „denen“ unterschieden wird, haben wir uns von der Werteordnung, für die Europa steht, schon längst verabschiedet. Und immer mehr finden jetzt die vorher im Untergrund stattgefundenen und vorbereiteten Angriffe auf die Grundrechte, die für alle gelten müssen, statt. Die Einschnitte in die Freiheit und Demokratie werden unter dem Deckmantel des Schutzes der Bevölkerung des Schutzes von „uns“ gegen „die“ eingeschleust.

Vorsitzender Matteo Gebhart: Niemals vergessen!

Wir dürfen niemals vergessen

Das Vergangene ist also längst nicht so vergangen, wie man uns weismachen will – genau wie vor 83 Jahren bewegen wir uns hin zu einem Aufschwung der Rechten und des Nationalismus – einer Gefahr für unsere Demokratie. In ganz Europa ist die Rede davon, dass „wir zuerst“ kommen, dass die Grenzen wieder hochgefahren werden müssen und diese mit Waffengewalt zu verteidigen sind, im Ernstfall also auf Flüchtlinge geschossen werden soll, wie etwa die AfD das in Deutschland fordert. Schon damals waren die SozialdemokratInnen die ersten, die Widerstand geleistet haben und auch heute müssen wir SozialdemokratInnen diejenigen sein, die sich für die Menschlichkeit, die Freiheit und die Demokratie einsetzen. Wenn wir heute denjenigen gedenken, die in den Kämpfen um den 12. Februar 1934 ihr Leben gelassen haben, weil sie ihre Werte und Ideale bis zuletzt vereidigt haben, müssen wir uns gleichzeitig ermahnen, dass ihr Opfer nicht umsonst gewesen sein darf. Wir schulden es ihnen, mit derselben Entschlossenheit für diese Werte einzustehen, für Menschlichkeit, für Solidarität wir schulden es ihrem Vermächtnis, unsere Werte zu verteidigen und den Frieden, in dem wir leben und wir schulden es denjenigen, die nach uns kommen, damit auch sie in derselben Freiheit und Demokratie leben dürfen.

Wir müssen an das Vergangene erinnern. Wir müssen dafür sorgen, dass so etwas nie wieder passiert. Wir dürfen niemals vergessen! „

Fotos: Arne Müseler

Gerade regen wir uns sehr darüber auf, dass ein 5jähriger Bub getötet wurde, weil er ins Bett machte. Wahrscheinlich gingen monate- und jahrelange Quälereien voraus.

So eine Wahnsinnstat passiert nicht einfach so. Aber was war vorher? Das müssen wir uns alle fragen. Diese Kinder wachsen ja nicht nur in der Familie auf. Da gibt es Nachbarn, Spielplatzbekanntschaften, PädagogInnen. Das sind wir! Wir sind die Nachbarn, Bekannten und Betreuer. Wir müssen hinschauen. Und jetzt komme ich an einen ganz heiklen Punkt. Manchmal nehmen wir wahr, dass es einem Kind nicht so gut geht. Aber wir wollen uns nicht einmischen. Und schon gar nicht wollen wir das Jugendamt informieren.  In meiner früheren Arbeit als Beraterin, Deutschlehrerin und Integrationsexpertin habe ich das oft erlebt. Da gibt es Gewalt gegen ein Kind, aber man meldet es nicht. Und jetzt als Verantwortliche für das Jugendamt in der Stadt Salzburg begegnen mir die Vorurteile und Bedenken auch:

  • Die nehmen denen sofort das Kind weg
  • Die können eh nichts machen
  • Dann muss ich sagen wer ich bin und hänge mit drinnen
  • Wenn an dem Verdacht nichts dran ist, dann ist das blöd für mich

Ganz ehrlich, lieber einmal zu viel hingeschaut. Lieber einmal eine peinliche Situation mit dem Nachbarn, als ein lebenslanger Vorwurf, dass man was tun hätte können. Zivilcourage, Hinschauen und Verantwortung beginnt bei einem selbst. Und was die wenigsten wissen ist, dass es auch eine rechtliche Verpflichtung gibt zu melden, wenn man einen Verdacht hat, dass ein Kind misshandelt wird. Das hat nichts mit Vernadern zu tun, sondern damit, dass man denjenigen helfen muss, die schwächer sind. Und das sind Kinder allemal!

Hier sind die Kontaktdaten zum Jugendamt der Stadt Salzburg

„Mach es einfach!“, sagt die junge Frau im Schloss Mirabell zu mir. Ich hatte ihr gerade erzählt, dass ich Pflichtuntersuchungen von Mädchen fordern möchte. Mädchen, die gefährdet sind an den Genitalien verstümmelt zu werden. Die Eltern der jungen Frau sind aus einem ostafrikanischen Land. Ihre Mutter wurde verstümmelt, ihrer Tochter hat sie diese grausame Misshandlung nicht angetan.

„Mach es einfach! Mach es einfach!“, so hallt es in meinem Kopf nach. Die ganzen nächsten Tage. Jahrelang ist Genitalverstümmelung schon ein Thema in Österreich. Es gibt eine Plattform gegen FGM (female genital mutilation), wie Genitalverstümmelung international heißt. Hunderte Millionen Frauen in vielen Ländern sind davon betroffen. Auch bei uns in Österreich. Genitalverstümmelung ist kein religiöses Gebot, aber eine uralte Tradition, die Muslime, aber auch Christen und Juden praktizieren. Es ist eine abartige, kriminelle Tradition. Besonders Mädchen aus Somalia, dem Sudan, Ägypten, aber auch aus dem Nordirak oder Senegal sind betroffen. Auch hier in Österreich. Genitalverstümmelung ist in Österreich strafbar, es können bis zu 10 Jahre Gefängnis darauf stehen.

Wir müssen ungeduldiger werden

Aber es gab nach meinen Recherchen noch nie eine Anzeige, geschweige denn eine Verurteilung. Obwohl wir davon wissen. Und obwohl wir in Österreich versuchen, durch Information und Aufklärung diese perverse Praktik zu verhindern. Maßnahmen, die sicher schon zu einem Rückgang  geführt haben. Aber es muss schneller gehen. Ein bisschen mehr Ungeduld tut gut. Und hilft dabei, die Unversehrtheit von noch mehr Mädchen zu bewahren. „Mach es einfach!“, hat die junge Frau zu mir gesagt. Sie hat recht. Aufklärung und Information alleine können FGM nicht stoppen. Auch nicht bei uns. Wir brauchen auch Kontrollen. Und wenn sich der Verdacht bestätigt: Anzeigen. Solange die Eltern die Gewissheit haben, dass niemand sie anzeigt, dass wir alle wegschauen – zwar mit Empörung, aber wegschauen – so lange gibt es für die Mädchen keine Sicherheit.

Messer für die Beschneidung (c) Foto: (I)NTACT e V.

Du hast mir nicht geholfen

In den all den Tagen, in denen mir das „Mach es einfach!“ durch den Kopf gegangen ist, hab ich mir immer wieder folgende Szene vorgestellt: Es ist das Jahr 2030. Ich treffe auf einem Multikulti-Fest eine junge Frau, deren Großeltern aus Somalia stammen. Wir plaudern über dies und das, sie fragt mich nach meiner beruflichen Vergangenheit. Als ich ihr erzähle, dass ich einmal Vizebürgermeisterin war und auch für Kinder und Jugendliche in der Stadt Salzburg zuständig, schwindet ihr Lächeln und sie fragt mich: „Was hast du damals getan für mich? Ich bin in Salzburg aufgewachsen. Ich bin hier zur Schule gegangen. Und sie haben mich beschnitten. Du hast mir nicht geholfen. Du hast weggeschaut, wie alle anderen auch.“

Anja Hagenauer: Wir dürfen nicht mehr wegschauen!

Was tun gegen Genitalverstümmelung?

  • Es braucht noch mehr Aufklärung und Information für betroffene Mädchen und Frauen
  • Männer – ob Ehemänner, Väter oder Brüder – müssen in die Aufklärungsarbeit mit einbezogen werden
  • Ärztinnen, Lehrer, Sozialarbeiterinnen brauchen mehr Sensibilisierung
  • Mädchen zwischen 0 und 14 Jahren, die von Genitalverstümmelung betroffen sein können, müssen in regelmäßigen Abständen von Kinderärzten untersucht werden
  • Dem geringsten Verdacht auf Genitalverstümmelung muss nachgegangen werden. Das Jugendamt muss informiert werden
  • Wenn der Verdacht sich bestätigt, müssen die verantwortlichen Erwachsenen konsequent zur Rechenschaft gezogen werden

Wer immer noch wegschauen möchte, dem sei ein Satz von Waris Dirie, der berühmtesten Kämpferin gegen Genitalverstümmelung ans Herz gelegt:

„FGM ist ein Verbrechen und niemand darf das tolerieren. Falsche Toleranz und Ignoranz gegenüber weiblicher Genitalverstümmelung, ist die härteste Form von Rassismus, die es gibt.“

Fotos: http://www.stop-fgm-now.com/de/presse und Arne Müseler