von Michael König

Gemeinsames Kochen war vereinbart. Wir holen die vier syrischen Männer am Samstag Nachmittag vom Flüchtlingsquartier ab. Ich bin gespannt. Was wird mich an diesem Nachmittag & Abend erwarten? Einlassen auf das mk2Fremde in der Heimat und das gleich im eigenen Zuhause. Normalerweise naschen wir vom exotischen Duft des Fremden in der gesicherten geografischen Distanz einer Fernreise. Nun aber sind die Fremden zu uns gekommen. Fluchtort Salzburg. Ungefragt. Begegnung ist angesagt. Von der Theorie zur Praxis. Die Männer erwarten uns schon freudig. Die Gruppe für das gemeinsame Kochen konstituiert sich. Vier Männer und ein österreichisches Paar. Keine wirklich gegenderte Gruppe. 5 zu 1. Ich bin gespannt. Der Witz beginnt schon im Auto zu laufen. Wir kennen uns nur von flüchtigen Begegnungen im Flüchtlingsquartier, die Geflüchteten und wir.
Unsere erste Etappe führt uns in den Supermarkt. Machmut, der freundliche Koch aus Damaskus, dessen Restaurant im Bombenhagel in Schutt und Asche gelegt wurde, hat das Menü schon geplant: Tabola, Bamya, Kabsa (Reisgericht mit Huhn oder Lamm), Mzabal und Salate. Mithilfe der arabisch-deutschen Apps füllt sich der Einkaufswagen rezeptgenau. Lustvoller Kontaktaufbau beim gemeinsamen Auswählen. Lachen, Gestikulieren, Übersetzen, Raten. Der Wagen füllt sich. Ich muss sie ermutigen, den Einkaufswagen ausreichend zu bestücken. Was denken sich die vier Männer wohl? Der Begegnungsfunke ist jedenfalls schon übergesprungen.

 

In heiterer Stimmung geht’s auf die Autobahn und raus aufs Land. Zuhause angekommen, übernimmt Machmut die Regie. Drei Stunden wird nun in entspannter Atmosphäre gekocht. Wohlwollend verfolge ich, wie sich die Männer in unserer österreichischen Küche leichtens zurechtfinden. In einem großen Topf köcheln Hühnerkeulen, leckere Salate, Auberginencreme und würzige Reisgerichte nehmen Gestalt und Geschmack an. Mich beeindruckt die Ruhe und Sorgsamkeit, mit der unser Koch die Gerichte entstehen lassen. Serag, der Techniker eines Ölbohrfeldes bei Deir-ez-Zur und Taha, der Anästhesiepfleger, schildern mir währenddessen ihre Fluchtroute via Google map. Handy-Videos zeigen Bilder von den Fluchtwegen über schroffe mazedonische Berge und durch dichte serbische Wälder, die sie durchqueren mussten. Geschichten von überfüllten Booten in der Ägis, zurückgelassenen, hoffenden Ehefrauen und Kindern. Irgendwann merke ich, wie sich mein Rücken verspannt. Der Mzabal sieht besonders lecker aus. Das Leben geht weiter. Jeden Tag schickt Serag seiner Frau fünf deutsche Wörter in die Türkei, wo sie darauf wartet, ihrem Mann mit ihren beiden Kindern nachfolgen zu können.

Nach drei Stunden ist es soweit. Wir lernen, dass die herrlichen syrischen Gerichte alle gleichzeitig auf den Tisch serviert werden. So ist es in Syrien üblich. Die Hausherrin möge den ersten Bissen zu sich nehmen, geben uns die vier Männer zu verstehen. So wird das in ihrer Heimat gemacht. Aber sie sind doch Gast bei uns? Nein, wir haben uns mk1getroffen, um uns zu begegnen und gemeinsam zu kochen und zu essen. Also nimmt die Hausherrin genussvoll den ersten Bissen zu sich. „Wir freuen uns, dass Sie unsere Gäste sind“, diesen Toast auszusprechen, ist mir ein Bedürfnis. Mehrmals an diesem Abend:  „No, we are family“, korrigieren mich die Männer jedesmal mit funkelnden Augen. Ich beginne zu verstehen und denke mir: Das muss unser moderne Begriff der Wahlverwandschaft also meinen: Familie ist dort, wo Menschen in Beziehung treten, sich öffnen, sich einlassen aufeinander, einander teilhaben lassen an ihrem Leben. Wir genießen jeden Bissen dieser köstlichen syrischen Gerichte. In Gedanken sehe ich Machmut schon in seinem syrischen Lokal in der Altstadt von Salzburg kochen. Wird er es schaffen? Noch spricht er kein Wort Englisch und Deutsch. Er bangt um das Leben seiner Frau und seiner drei Kinder. Stress im Kopf blockiert das Ankommen in unserem Land und in unserer Sprache. Es wird ein langer Weg für ihn.

Narrationen des Lebens von dort und von hier füllen den Raum. Thaha ist vor 7 Tagen Vater geworden, er öffnet ein Foto am Handy von seinem kleinen Baby, das er noch nicht in seinen Armen wiegen durfte. Seine Frau wartet irgendwo in der Türkei in einem Flüchtlingslager. Mir wird es eng ums Herz. Wann wird er seinen Sohn erstmals in die Arme schließen dürfen? Thahas und Serags Frauen sind Krankenschwestern. Ich erzähle ihnen von den guten Jobchancen von Krankenschwestern in Österreich. Mit Interesse hören das die beiden Männer erstmals. Ein Thema verwebt sich mit dem nächsten. Wir halten Mahl mit den Fremden. Einer von ihnen, der charmante junge Hannibal, spricht und versteht nur Arabisch. Bis er irgendwann leicht verschmitzt und unvermittelt sagt: „Ich bin ledig.“ Schallendes Gelächter. Wir kennen uns aus. Nicht mehr lange wirst du das sein, geht es mir durch den Sinn.

Irgendwann spätabends fahren wir sie zurück in ihr nicht „Zuhause“. Was hat ihnen der Abend wohl bedeutet? Ich fühle mich tief beschenkt von diesem Begegnungsraum, der sich da auftat. Was als Geste des Willkommens gedacht war, wurde zu einer inspirierenden, bewegenden, nachdenklich-machenden, erweiternden Begegnung. We are family. Yes. You are right. We are. Thank you Machmut, Serag, Taha, Hannibal, Claudia.

—————————

Wer so etwas Besonderes erleben möchte hat bei MITEINANDER ESSEN die beste Möglichkeit:

Stadt Salzburg – Miteinander Essen

Hier geht’s zur Facebookseite: Miteinander essen

2013 war es Gravity, 2014 Interstellar. Dieses Jahr erleben wir, bereits den dritten Herbst in Folge, ein großartiges Weltraum-Abenteuer im Kino: Der Marsianer nach dem gleichnamigen Buch von Andy Weir. Wie in Gravity geht es darum, dass ein Mensch weit weg von der Erde ums Überleben kämpft und versucht, auf unseren Planeten zurückzukommen.

The_Martian_film_posterEs ist die dritte bemannte Mission auf dem Mars. In einem gewaltigen Sturm wird der Biologe Mark Watney [Matt Damon] fortgerissen. Der Rest der Crew schafft es gerade noch, den Roten Planeten zu verlassen und sich auf den Weg zurück zur Erde zu machen. Doch Mark Watney ist nicht tot. Verwundet kehrt er in die Forschungsstation der Mission zurück. Er beschließt zu überleben und schafft es sogar Kontakt mit der Erde aufnehmen, damit er gerettet wird.

Bis es so weit ist werden mindestens vier Jahre vergehen. Und so muss Mark Watney unzählige Probleme lösen: Das Essen wird nicht lange reichen. Er muss also auf dem öden Planeten mit dünner Atmosphäre selbst etwas anbauen. Wie soll er das tun? So ohne Wasser? Kaum findet Mark Watney einen Weg, führt dieser gleich zum nächsten Problem. Mit unglaublichem Erfindungsreichtum hangelt er sich von einer Lösung zur nächsten und behält dabei auch noch seinen Humor. Selbst nach den größten Rückschlägen.

Ein Mensch allein in der Einsamkeit – weit weg von der Erde. Anders als der einsame Überlebenskampf von Ryan Stone [Sandra Bullok] in Gravity, wirkt die Lage von Mark Watney [Matt Damon] gar nicht beklemmend: Er hat wenigstens festen Boden unter den Füßen und scheint genau zu wissen, was zu tun ist. Gar nicht so unbequem. Auf dem Mars ist er zwar ganz auf sich gestellt, doch auf der Erde suchen die Wissenschaftler und Techniker der NASA nach Möglichkeiten, ihn nach Hause zu holen.

Matt Damon steht eine hochkaratäige Starbesetzung zur Seite – von Sean Bean, über Jessica Chastain zu Chiwetel Ejiofor und viele andere mehr. Die Besetzungsliste liest sich wie ein Who’s who in Hollywood.

[Seht hier den Trailer – oder scrollt weiter nach unten und lest gleich weiter.]

 

Stone, die Hauptfigur in Gravity hatte nichts mehr, für das es sich zu leben lohnte. Sie war ganz allein auf der Welt: zurückgezogen, keine Familie und ihre kleine Tochter war mit vier Jahren gestorben. Erst in der Einsamkeit des Alls fand sie einen neuen, unglaublich starken Lebenswillen. Das alles machte sie zu einer starken Identifikationsfigur.

Mark Watney ist hingegen ein lebensfroher, humorvoller Mensch. Seine Eltern leben noch. Wahrscheinlich hat er viele auch viele Freunde, doch das erfahren wir nicht – so wie der Film auch sonst wenig über Mark Watney verrät und darüber, was seinen Überlebenswillen antreibt. Als er gegen Schluss des Films an den Punkt gelangt, an dem er die Hoffnung auf seine Rettung aufgeben muss, akzeptiert er den einsamen Tod auf dem Mars, ganz ohne Selbstmitleid. „Die Sache ist größer als ich“, sagt er und meint damit die Erforschung des Mars zum Nutzen der Menschheit. Er hat seinen Beitrag geleistet.

Selbst als Zuschauer kann man an diesem Punkt mit dem nahen Tod der Hauptfigur seinen Frieden schließen. So etwas passiert mir normalerweise nicht leicht. So weit, wie Mark Watney gekommen ist, war seine Leistung bereits ein echter Triumph des menschlichen Willens, fand ich. Mission erfüllt. Für mich beweist das eine Schwäche des Films: Mark ist kein Mensch geworden, für den ich so große Empathie empfinde, dass ich ihn nicht loslassen möchte.

Aber das muss man letztlich auch nicht. Denn, wie sagt ein Sprichwort? Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, dann ist es nicht das Ende.

Meine Bewertung auf IMDB: 8 Punkte
Regisseur Ridley Scott hat nach einigen ordentlich misslungenen Filmen bewiesen, dass er es doch noch drauf hat. Er bietet ein sehenswertes und unterhaltsames Mensch-gegen-die-Natur-Drama – mit Matt Damon als äußerst sympathischen modernen Robinson Crusoe.

P.S.: Ich habe den Film mit meinem Kino-Buddy Andi angesehen. Nach ihm ist sogar ein Krater auf dem Mars benannt. Er hat sich gefreut, die Umgebung schon mal im Film begutachten zu können. „Eine nette Nachbarschaft“, wie er findet. Er wird vielleicht nicht persönlich hinreisen können, aber er kann auch bei einem Besuch in der Wadi Rum Wüste (Jordanien) einen Eindruck bekommen, wie es auf dem Roten Planeten so ist. Dort wurden viele der Mars-Szenen gedreht.
Bildschirmfoto 2015-10-10 um 10.51.02

fd1

Friedemann Derschmidt

Ahnen- und Familienforschung ist im Trend der Zeit. Was wenn aber jemand in seinem 8. oder neunten Lebensjahr damit durch neugierige Fragen begonnen hat? Und viele Familienangehörige miteinbezieht? Und damit auch aneckt? Dadurch an künstlerischer Kraft gewinnt? Dann ist es Friedemann Derschmidt.

In Teil 1 hat uns Derschmidt erzählt wie alles begann als er 8 oder 9 Jahre alt war, zu lesen hier:

Sag du es deinem Kinde 1

Was uns jetzt interessiert ist, wie es die Familie aufgenommen hat? Ob es Ängste und Widerstände gab?

Friedemann Derschmidt:

f5Selbstverständlich! Es gab anfangs mal eine große Verstörung. Meine vermeintliche Unterstellung mit dem Vererbungsexperiment. Der Tabubruch über diese Dinge überhaupt zu reden. Die Chuzpe am Familienmythos zu kratzen usw. Nur einige wenige, denen ich aufrichtig dankbar bin, haben verstanden. Sie haben sich demonstrativ an meine Seite gestellt. „…ich danke Dir für Deine Initiative, die ich vollinhaltlich unterstütze. Es hat mehr als 65 Jahre gedauert, ehe offen über die „dunkle Seite“ der Familie gesprochen werden kann. Es ist Dein Verdienst, dass Du dieses Tabu in einem – zunächst geschützten Rahmen – brichst. Tabuverletzungen werden mit Sanktionen bedacht. Diese bin ich bereit mit Dir zu teilen. Ich hoffe sehr, dass sich viele der Nachfolger des Heinrich Reichel an diesem Experiment beteiligen.“

Aus einem der ersten Postings am Weblog mit dem Titel „für schonungslose Transparenz“ von Dietmar Weixler, der auch einen Beitrag im Buch hat, in dem er zum Thema „Arzt sein als Urenkel des Rassenhygienikers Heinrich Reichel“ schreibt. Und es gab harsche Reaktionen (4): Ein Cousin meines Vaters schrieb einen offenen Brief an alle Familienmitglieder, in dem er mich aufforderte, die Website auf der Stelle zu schließen, und die Verwandten dazu aufrief, mich zu boykottieren. f3Bei einem Familienfest sprach ich ihn an und bat ihn, direkt mit mir zu reden, statt offene Briefe zu schreiben. Ich fragte ihn, was sein Problem sei. Er forderte daraufhin von mir: „Nimm das Bild mit den Männern in Naziuniform, die vor meinem Haus stehen, aus dem Internet.“ Ich fragte ihn, ob er vergessen habe, dass „diese Männer“ sein Vater und seine Onkel seien. Es entspann sich ein Dialog über „soldatische Pflichterfüllung“ und wir kamen auf Widerstandskämpfer zu sprechen. Er meinte daraufhin: „Während die anderen anständig die Heimat verteidigt haben, sind ihnen diese sogenannten Widerstandskämpfer in den Rücken gefallen.“ Mein Vater war inzwischen zu uns gestoßen und antwortete statt mir: „Was meinst du mit ‚Heimat verteidigen‘? In Stalingrad vielleicht?“ Ich musste den Raum verlassen, um Luft zu holen. Als ich zurück kam, war nur mehr mein Vater da und sagte sehr verstört: „Dieser Rassist hat mir soeben erklärt, du wärst von den Juden gekauft worden, um die Familie zu zerstören.“

Auftritte und Briefe, wie die von jenem Cousin meines Vaters, haben eher dazu geführt, dass einige Mitglieder der Familie ihre Reserviertheit gegenüber dem Projekt aufgaben und dem Projekt nähertraten. Dennoch werde ich immer wieder attackiert, da es wie immer leichter fällt, dem Überbringer der schlechten Nachricht die Schuld an der Nachricht selbst zu geben. Das Projekt löst bei vielen sehr negative Gefühle und Energien aus, mit f6denen ich konfrontiert werde. Umso mehr brauche ich dann den Zuspruch von Menschen, die das Projekt unterstützen und sich nicht scheuen, Unangenehmes zu konfrontieren. Ich wurde während des Zusammenstellens dieses Kapitels darauf angesprochen, warum hier fast nur Texte zu finden sind, die von Leuten stammen, die dem Projekt eher positiv gegenüberstehen. Tatsächlich gibt es auch genug Texte, die das Projekt ablehnen und angreifen. Interessant ist, dass bei Anfrage die VerfasserInnen selbst die Veröffentlichung dieser Texte ablehnten oder ich in anderen Fällen von Verwandten gebeten wurde, Texte nicht zu veröffentlichen, weil deren AutorInnen psychische Probleme hätten oder überhaupt psychisch krank seien. Ich weiß von einigen wenigen Familienangehörigen, die tatsächlich mit schwerwiegenden mentalen Problemen zu kämpfen haben, und ich will das sicherlich nicht pathologisierend in dieses Projekt hineinvermischen. Andere sind für mich jedoch schlichtweg nicht mutig genug, sich ihren eigenen Ambivalenzen und der Diskussion über dieselben zu stellen.

wird fortgesetzt…

Friedemann Derschmidts Buch gibt es hier: Sag du es deinem Kinde

Ein besonderes Projekt ist das „2 Familien Archiv“: Two Families Archive

(4) aus Buch Sag.D.e.D.Kinde im Kapitel „Reaktionen der Familie“

von Sonja Schiff

sonja schiff für SVB

Sonja Schiff

Seit Wochen beschäftigt unsere Gesellschaft und die Politik das Thema Flüchtlinge. Berichte in den Medien versuchen uns die Not der geflüchteten Menschen näherzubringen, versuchen zu beschreiben, warum Menschen ihre Heimat verlassen und in der Fremde Schutz suchen. Unsere Gesellschaft ist derzeit gespalten, da finden sich auf der einen Seite jene, die Schutzsuchende willkommen heißen, ihnen aktiv helfen und da gibt es auf der anderen Seite jene, die sich fürchten, vor dem Verlust der eigenen Kultur, vor einem Absinken des eigenen Wohlstands und vor allem vor dem Unbekannten, vor dem Fremden an sich.

Mir geht dieser Tage immer wieder eine berufliche Begegnung durch den Kopf, eine Begegnung, die mich in jungen Jahren sehr verändert hat, die letztlich mein Herz geöffnet hat für Menschen auf der Flucht.

Jänner 1991.

Ich bin eine junge Krankenschwester und arbeite in der Hauskrankenpflege. Ich pflege und betreue also alte Menschen in ihren eigenen vier Wänden. Mein Haupteinsatzgebiet ist die Bessarabiersiedlung, das sogenannte Glasscherbenviertel von Salzburg, entstanden aus Flüchtlingsbaracken, für Flüchtlinge aus dem Banat und Bessarabien. Bessarabiersiedlung, das sind 1991 vor allem Sozialbauten und es heißt, wer hier einmal gewohnt hat, kommt nicht mehr raus aus dem Elend.

Seit etwa einem Jahr besuche ich täglich zwei Mal die gehbeeinträchtigte Martha Gerner (Name frei erfunden, Anmerkung der Autorin), sie ist 85 Jahre alt und hat  eine leichte Demenz. Eingezogen in eine Flüchtlingsbaracke in der Bessarabiersiedlung irgendwann gegen Ende des zweiten Weltkriegs als junge Frau, hat sie tatsächlich ihr gesamtes Leben in dieser Siedlung verbracht. Aus der ehemaligen Baracke wurde irgendwann eine kleine Wohnung, mit einer richtigen Toilette und einem eigenen Bad. Hier lebte Frau Gerner ihr Leben, sie heiratete, bekam drei Kinder und wurde irgendwann wieder Witwe.

Martha Gerner kann sich nicht mehr alleine waschen, braucht Hilfe beim Anziehen und beim Ausziehen und bekommt als Diabetikerin von mir täglich zwei Mal ihre Insulininjektion. Neben der Pflegearbeit sprechen wir viel miteinander und so erfahre ich von Martha Gerners Flucht, damals Ende des zweiten Weltkrieges. Sie berichtet mir von den Ängsten, die sie damals durchlebt hat und davon, wie sie im Winter tagelang barfuß lief und ihre Zehen erfroren. Heute noch schmerzen diese und erinnern sie bei jedem Schritt an die lange beschwerliche Reise.

Als junge Krankenschwester höre ich mir ihre Geschichten an. Es ist Teil meiner Arbeit, mir die Geschichten der alten PatientInnen anzuhören. Aber wer täglich sieben oder acht solcher Geschichten hört, kann nicht jedes Gefühl an sich heranlassen. Was es bedeutet auf der Flucht zu sein, welche Ängste man durchlebt, das alles perlt an mir ab. Bis zu dem einen Tag im Jänner 1991.

Saddam Hussein hat vor einigen Monaten Kuweit besetzt. Amerika erklärt dem Irak den Krieg. Der Golfkrieg beginnt. Der erste Krieg, der via Fernsehen in die Wohnzimmer der Welt übertragen wird. Damit jene Welt, die sich nicht im Krieg befindet, Krieg schauen kann. Kriegserklärung, Angriffe, Bomben die detonieren, alles wird live in die Wohnzimmer der Welt übertragen.

so1

Fotocredit: www.pixabay.com

Als ich am ersten Tag nach der Kriegsankündigung Amerikas zu Frau Gerner komme, finde ich die alte Frau in ihrer Küche unter dem Esstisch. „Gehen Sie weg, gehen Sie weg“, schreit sie gellend und schaut mich funkelnd an. Nicht sofort verstehe ich den Grund für diese seltsame Situation, die ich da vorfinde. Doch dann höre ich, dass im Wohnzimmer der Fernseher läuft. Man hört Bomben einschlagen, Detonationen, Stimmen die rufen. Der Golfkrieg ist also auch im Wohnzimmer von Frau Gerner gelandet.

„Gehen Sie weg, weg mit Ihnen“ schreit die ehemalige Flüchtlingsfrau und droht mir mit einem Küchenmesser. „Ich steche Sie ab! Gehen Sie weg!“. Nach einigem Überlegen gehe ich in ihr Wohnzimmer und schalte den Fernseher aus. Ich warte ein paar Minuten und betrete dann erneut die Küche, spreche Frau Gerner mit ihrem Namen an, erkläre ihr, dass es nur ich wäre, ihre Krankenschwester. Da fängt sie an zu weinen und dieses Weinen wächst zu einem langen schweren Schluchzen. Als sie irgendwann, immer noch unter dem Tisch kauernd, Kraft findet zu sprechen, höre ich die 85 jährige Frau fragen: „Kommen jetzt wieder die Soldaten? Haben wir jetzt wieder Krieg, Schwester?“

Ich weiß noch, wie es mir damals die Gänsehaut aufgezogen hat. Die Angst der Patientin war für mich junge Frau, die ich zum Glück ohne Krieg aufgewachsen bin, mit einem Mal so präsent, ihr erlebtes Grauen war so nah. Was muss ein Mensch alles erlebt haben, dass er mit 85 Jahren und mit einer Gehbeeinträchtigung unter den Esstisch kriecht, um sich zu verstecken? Was muss ein Mensch gesehen haben, dass er hochbetagt wie paralysiert unter einem Tisch kauert und um sein Leben wimmert.

Wenn ich heute in die Gesichter der Flüchtlinge schaue, dann denke ich immer und immer wieder an Frau Gerner, die ich eigentlich schon lange in meinen Erinnerungen vergraben hatte. Dann ist mir ihr Grauen wieder nah, ihr Schreien, ihre Angst und ich ahne, was jene Menschen, die gerade auf unseren Bahnhöfen schlafen und hoffen, erlitten haben.

——————–

Sonja Schiff, MA ist Gerontologin und Altenpflegeexpertin. Sie hält Seminare für Altenpflegeeinrichtungen, sowie Pensionsvorbereitungsseminare für Firmen. Im Oktober 2015 erscheint ihr erstes Buch „10 Dinge, die ich von alten Menschen über das Leben lernte“.

Mehr Infos zu Sonja Schiff finden Sie unter:

careconsulting

vielfalten

In aller Herrgottsfrühe geh ich am Donnerstag immer auf die Schranne für den Wocheneinkauf. Ich hab da meinen Weg, schließlich brauch ich Obst, Gemüse, Wurst, Käse und Brot.

Bei einem Stand hat sich heute folgendes zugetragen.

aaa1Ein älteres Ehepaar und ich werden freundlich bedient. Das Ehepaar schimpft dann ein bisschen vor sich hin: über die EU und die unfähigen PolitikerInnen überhaupt. Zahlt und geht. Ich bin noch nicht fertig mit meinem Einkauf. Da meint die Standlerin: „Mei Sie müssen sich auch immer viel anhören, auch net so leicht.“ Ich beschwichtige sie und sage, dass das dazu gehört. Und dann sagt sie:

„Da sind Sie eh nicht alleine. Mir ist es letzte Woche ähnlich ergangen. Da geht so um halb Acht eine Mutter mit ihrem Kind an der Hand bei mir am Stand Richtung Volksschule vorbei. Da zeigt sie mit dem Finger auf mich und meint ganz laut zu dem Kind: Du musst schon was lernen, sonst musst du da auch im Standl verkaufen!“

Setzt ihre Mitarbeiterin noch eins drauf: „Und bei mir war’s so. Steh ich in aller Früh da, verkauf meine Sachen. War’s schon sehr kalt. Sag ich zur Kundschaft: Ja, frieren tut’s mich schon ein bisserl. Meint die Kundschaft: Frieren tun nur die Armen und die Dummen.“

Ja, da haben wir, die Standlerin, ihre Mitarbeiterin und ich, die Kundschaft,  folgendes festgestellt:

Etwas zu verkaufen ist ein ehrbarer Beruf und da braucht man keinem Kind Angst machen. Frieren ist meist nicht selbstverschuldet. Niemand der friert, verdient so verachtende Worte. Und außerdem sollten wir alle zusammen ganz dankbar sein, dass es uns in Österreich im Großen und Ganzen sehr gut geht. So war das heut in aller Herrgottsfrühe auf der Schranne.

Um ein bauliches Desaster wie in der Linzergasse zu vermeiden, wurde bei der Neugestaltung der Getreidegasse in Salzburg der Rat behinderter Menschen miteinbezogen. Die Barrierefreiheit sollte eigentlich oberste Priorität haben. Bereits seit 2006 gilt  dahingehend das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz. Am 1. Jänner 2016 endet die zehnjährige Frist zur Umsetzung. Im kommenden März beginnen dann in der Getreidegasse die Arbeiten mit der Pflasterung.

Viele Geschäftsleute wollen umbauen oder ihre Lokale adaptieren, haben aber dabei vor allem mit bürokratischen Problemen und einzelnen Grabenkämpfen zu tun. Einer der Betroffenen ist Reinhard Hanel. Der Pharmazeut hat im Juli dieses Jahres die Apotheke zum Goldenen Biber in der Getreidegasse 4 übernommen. Er weiß, wie wichtig es ist, dass jeder Mensch sein Geschäft ohne Hindernisse betreten kann. „Die Barrierefreiheit nutzt jedem von uns. Egal ob jemand im Rollstuhl sitzt oder mit einem Kinderwagen rein will. Durch den Umbau bekomme ich mehr Kunden dazu“, sagt er.

„Sämtliche meiner Vorschläge zur Umgestaltung des Eingangs wurden abgelehnt, obwohl ich selbst für die Kosten des Umbaus aufkommen würde. Ich habe mich schon so geärgert.“

In den vergangenen Wochen hatte Hanel Besuch von acht Beamten aus acht unterschiedlichen Ressorts des Magistrats. Das reichte vom Straßenverkehrsamt über das Amt für Hoch- und Tiefbau bis hin zum Straßen- und Brückenamt. „Sämtliche meiner Vorschläge zur Umgestaltung des Eingangs wurden abgelehnt, obwohl ich selbst für die Kosten des Umbaus aufkommen würde. Ich habe mich schon so geärgert“, erklärt der Apotheker.

Die Nachtglocke wird demnächst nach unten verlegt, damit auch Menschen im Rollstuhl sie erreichen können. (c) Harald Saller

Die Nachtglocke wird nach unten verlegt. (c) Harald Saller

Hanel verspricht allerdings, dass so bald wie möglich eine Rampe beim Eingang gebaut werde. „Wie die allerdings genau aussehen wird, weiß ich noch nicht.“ Zudem wird die Glocke für den Nachtdienst nach unten verlegt, damit sie unter anderem auch für Rollstuhlfahrer erreichbar ist.

Sabine Neusüß, Behindertenbeauftragte der Stadt Salzburg, kennt diese Probleme nur allzu gut. „Es stimmt, dass es mehrere Lösungsvorschläge gegeben hat, die aber alle vom Straßen- und Brückenamt abgelehnt wurden. Derzeit ist eine mobile Rampe angedacht, die allerdings ohne fremde Hilfe nicht zur Seite geschoben werden kann“, so Neusüß. Sie wird diesbezüglich Gespräche mit der Baustadträtin Barbara Unterkofler (Neos) führen. Derzeit seien noch rund 30 weitere Geschäfte vom Umbau betroffen. „Wir haben alle Inhaberinnen und Inhaber angeschrieben und Beratungsgespräche angeboten. Einige davon sind sehr interessiert, ihren Geschäftsraum barrierefrei zu gestalten“, erklärt die Behindertenbeauftragte.