Offene Briefe an die Regierung verlangen ein besseres Bildungssystem, bessere medizinische Versorgung, soziale Gerechtigkeit. Und besonders eines:die Abkehr vom Neoliberalismus.
Dies alles passiert in einem Land, das durch seine Bodenschätze, durch seine Agrarflächen autark sein könnte, würde nicht so viel Geld in Korruption versickern.
Als ich vor zwei Tagen meiner Freundin Ariane die Frage:“Also hat sich seit 15 Jahren nicht wirklich etwas geändert?“ stellte, bekam ich die Antwort:“Infelizmente nao(unglücklicherweise nicht)“!
Brasilien ist das Land, das wie ein leichtfüßiger Sambatänzer die wirklichen Probleme abstreifte und lieber direkt an die Welt anschloss, die Internet, TV, Facebook, Smartphones bot. Der Untergrund jedoch blieb ein sandiger, wie das Straßennetz, das ebenfalls auf Sand gebaut, ohne richtige Fundamentierung ein Schlagloch nach dem anderen bietet. So sieht auch die wirtschaftliche und politische Situation aus, notdürftig geflickt.
Man kann zwar per Internet und Einlogcode von zu Hause aus wählen, aber gewählt werden können auch Kandidaten, die als Präsident zehn Jahre zuvor mit den Rentenkassen nach Amerika flüchteten, dort die Verjährung abwarteten und dann eben wieder zurückkehrten, ohne dass man gegen sie vorgehen konnte.
Der Präsident/ die Präsidentin ist führend in einer Föderation von eigenständigen Staaten, und wenn die governadores nicht wollen, was von der Regierung vorgeschlagen wird, passiert gar nichts. So stehen die Probleme des Bildungssystems und der convenios (Krankenkassen) seit jeher an, ohne dass es Lösungen gibt. Es wurde die Sozialversicherung INCC eingeführt, die Menschen vertrauen den Versicherungen jedoch nicht mehr und wollen schwarz angestellt werden und den Arbeitgeberbetrag bar in die Hand bekommen.
Lehrer an öffentlichen Schulen unterrichten im Schnitt die doppelte Lehrverpflichtung an mehreren Schulen, da sie von einer Anstellung nicht leben können. So sieht auch die Ausbildung aus. Es entfallen im Schnitt die Hälfte der Unterrichtsstunden durch Abwesenheit der Lehrer.
Privilegiert sind die anderen, die an Privatschulen lehren. Sie haben kleine Unterrichtsgruppen, Bibliotheken mit Computern und Unterrichtsmaterialien. Der Druck auf sie ist allerdings groß- sie stehen unter Erfolgszwang.
Diese Schulen kann sich kein Normalbürger leisten, sie werden besucht von Kindern aus Wirtschaft und Industrie oder Großgrundbesitzern, die in bewachten Bollwerken wohnen, aus Angst vor Überfällen oder Entführungen.
Die medizinische Versorgung entspricht von den Kenntnissen her absolut europäischem Level, ja, in manchen Bereichen sind die Ärzte wesentlich besser, können sie doch durch die Häufigkeit gewisser Operationen bei der Größe der Population wesentlich mehr Praxis vorweisen.
Hier gibt es jedoch ebenfalls Privatkrankenhäuser und öffentliche, in die wir Europäer nicht gehen würden. Es fehlt diesen an Apparaten, Pflegepersonal, am Notwendigsten.
Nirgends hatten internationale Firmen und amerikanische Großkonzerne einen so fruchtbaren Nährboden wie in Brasilien, das aus der „terceiro mundo“ in die Erste Welt aufsteigen wollte, ohne aber sein Volk mitzunehmen. Plakate in Rio waren daher auch beschriftet:“Man wollte in die erste Welt, hat aber vergessen einen funktionierenden Staat dazu aufzubauen.“
Wenn Dilma Roussef nun die Erträge aus den Ölvorkommnissen dem Volk und den Reformmaßnahmen zur Verfügung stellen kann, sieht man, welcher Reichtum in Wirklichkeit in diesem Land vorhanden ist. Er wird bisher in die falschen Kanäle geleitet.
Das brasilianische Volk ist pazifistisch, ein beliebter Ausspruch ist “ Sou de paz (ich bin für Frieden)“, ja es ist sogar gottesergeben gewesen. In den letzten sieben Tagen, die als zukunftsweisend gesehen werden und am 1. Juli im ersten Generalstreik in Brasilien ihren Höhepunkt finden, hat sich viel geändert unter dem Kampfesruf “ Vem pra rua ( komm auf die Straße)!“
Brasilien ist durchaus am Puls der Zeit. Es war seit 20 Jahren vorhersehbar, dass das alte Wirtschaftssystem, mehrmals notdürftig geflickt, weltweit nicht haltbar sein wird. Ich frage mich, was die Ultrareichen mit ihren Milliarden und Millionen wollen, wenn hier auf der Erde alles drunter und drüber geht? Wollen sie sich zum Mond ausfliegen lassen?