Mein Brief an Feysal
Lieber Feysal,
als ich dich gerade im Supermarkt am Bahnhof bei deiner Arbeit getroffen habe und wir einen kurzen Tratsch hielten, habe ich beschlossen dir diesen offenen Brief zu schreiben. Du fragst dich jetzt sicher, warum macht die Anja das? Weil ich stolz bin auf dich Feysal. Und weil ich dich brauche. Vor vielen Jahren habe ich dich als schüchternen Jungen aus Somalia kennen gelernt. Du warst ein sogenannter UmF, ein unbegleiteter minderjährig Flüchtling. Eine liebe Freundin hat dich mir vorgestellt. Da warst du gerade dabei den Pflichtschulabschluss zu beginnen. Dein Deutsch war, jetzt kann ich es ja sagen, sehr ausbaufähig. Deine Sorge galt immer deiner Familie, Mama, Papa und den Geschwistern. Deine Gedanken waren immer bei ihnen. Trotzdem hast du dich durchgebissen, den Hauptschulabschluss geschafft und eine Lehre begonnen. Ein halbes Jahr hattest du einen kleinen Durchhänger, da hat dich das Lernen nicht mehr gefreut. Aber dann bist du nochmals durchgestartet, hast die Lehre abgeschlossen, deine Frau kennengelernt und bist Vater geworden. Deine Geschwister sind jetzt auch hier, genau so fleißig wie du.
Es braucht viele Feysals
Und heute im Supermarkt hast du zu mir gesagt: „Anja, wenn du mich brauchst für ein Interview oder so, ich bin immer für dich da.“ Ja Feysal, jetzt auf dem Nachhauseweg ist mir klar geworden, dass ich dich brauche. Als Vorbild, Neudeutsch Role Model, für andere unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Sie können es auch schaffen. Und als Beispiel für meine Kolleginnen und Kollegen aus der Politik. Ein Mensch, der eine Chance auf Bildung erhält, wird sie in den meisten Fällen nutzen. Noch immer hängt das für junge Flüchtlinge vom Zufall ab, denn ein Programm für alle gibt es immer noch nicht. Du hattest damals die Chance bekommen, du hast sie genutzt, lieber Feysal. Du bist ein Vorbild. Aber viele hatten und haben nicht einmal die Chance, weil es keine Rahmenbedingungen gibt, die für alle jungen Flüchtlinge da und gleich sind. Lieber lässt man sie die Tage vergeuden, herumsitzen und fordert sie nicht. Feysal, du bist ein Beispiel dafür, was endlich Normalität werden sollte. Deutsch lernen, Pflichtschule nachholen, eine Ausbildung machen, arbeiten und Teil der österreichischen Gesellschaft werden. So wie du Feysal! Dein Beispiel soll helfen, dass viele diese Möglichkeit bekommen.
Weiterhin alles Gute dir und deiner wachsenden Familie ;)
Auf bald!
Anja