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Heute werden die Olympischen Spiele in Rio eröffnet. Im Maracana Stadion wird Samba getanzt. Die Fotograf/innen freuen sich über typische Rio-Bilder und Sport-Journalisten/innen schreiben von einer großen Feier. Die Realität schaut freilich anders aus. Im dritten Teil dieser Olympia-Serie soll ein Blick auf das heutige Brasilien abseits der Klischees gerichtet werden: Landlose, Indios, Schwarze, Schwule, Menschenrechtsaktivist/innen. Die „Spiele der Exklusion“ nähren sich aus der politischen (Un)Kultur eines Landes, das einen Großteil seiner Bevölkerung ausschließt.

Für Olympia wurden rund 80.000 Menschen vertrieben. Ihre Armensiedlungen standen im Weg. Jetzt entstehen dort Luxuswohnungen. Armut wird in Rio gleichgesetzt mit Kriminalität. Und nicht die Armut, sondern die Armen werden bekämpft: Jeden Tag stirbt in Rio mindestens ein Mensch durch Polizeigewalt. 80% der Opfer sind jung, schwarz und männlich. 2014 sind in Brasilien über 58.000 Menschen ermordet worden. Für 15% der Tötungen ist die Polizei verantwortlich.

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Eingang der Ehrentribüne des Maracana Stadions, in dem die Olympia-Eröffnung stattfindet. Gleich dahinter die Favela Morro da Mangueira. Bei der WM 2014 war durch die Nähe zum Stadion ihre Gesundheitsstation in der Sperrzone.

Fast täglich wird in Brasilien ein Mensch wegen seiner sexuellen Orientierung ermordet, berichtet die evangelische Kirche in Deutschland. 330 Schwule, Lesben und Transvestiten wurden allein 2013 durch homophobe Gewalt getötet. Die brasilianische Verfassung verurteilt zwar jede Form von Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung, und Homosexuelle können eine eheähnliche Gemeinschaft eingehen. In der Praxis werden Schwule und Lesben jedoch verfolgt, sind Opfer von Polizei-Willkür und werden grundlos in Haft genommen. In manchen Landesteilen haben es Todesschwadronen auf Schwulen und Lesben abgesehen.

Die CPT (Landpastoral der brasilianischen Bischofkonferenz) spricht von 2015 als einem „schwarzen Jahr“: 50 Bauern und Menschenrechtsaktivist/innen sind ermordet worden. Im Kampf um ihre Rechte auf Land. Das ist die höchste Zahl in den letzten 10 Jahren. Die Agroindustrie, der Bergbau und die illegale Abholzung des Regenwaldes hinterlassen blutgetränkte Erde. 135 Wasserkonflikte (z.B. durch den Bau von Staudämmen) im Jahr 2015 ist die höchste Anzahl seit aufgezeichnet wird. Insgesamt waren in Brasilien über 800.000 Menschen auf mehr als 21 Mio. Hektar Land betroffen. Das ist eine Fläche zweieinhalb Mal so groß wie Österreich.

70 Indigene wurden 2015 ermordet. Das ist um ein Fünftel mehr als im Vorjahr, berichtet CIMI (Rat der brasilianischen Bischofskonferenz für die indigenen Völker). Hunderte wurden in den letzten Jahren getötet, hunderte begingen aus Verzweiflung Selbstmord. Bischof Erwin Kräutler, langjähriger CIMI-Präsident, Träger des alternativen Nobelpreises und Kritiker von Megasport-Events spricht von Genozid. Und auch davon, jetzt mutig die Kirche und die Welt zu verändern. Damit sie überlebensfähig bleibt. Für alle.

 

Brasilien, Russland, China, Südafrika. Die Gruppe der führenden Schwellenländer sind inzwischen die wichtigsten Austragungsorte von Mega-Sportevents. Man erhoffte sich wirtschaftlichen Schwung, Tourismuseinnahmen und eine Imagekorrektur in der Weltöffentlichkeit. Stattdessen manövrierten sich die Länder in tiefe Krisen, die Wirtschaft, Politik und Soziales immer stärker erfassen.

Sandburg

Mitte April hatte Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff nicht einmal mehr ein Drittel der Stimmen im Abgeordnetenhaus hinter sich. In einem kalten Putsch hat die konservative und extremistische Mehrheit im Parlament die Stimmung im Land ausgenützt. Was 2013 mit Demos beim Confederations Cup, dem Probetournier für die Fußball WM begonnen hatte, erreicht nun mit der Amtsenthebung einen einstweiligen Höhepunkt. Die neuen Machthaber hoffen nun, die Korruptionsermittlungen im Sand verlaufen lassen zu können. Aus Eigeninteresse. Immerhin wird gegen 60 Prozent der Kongressmitglieder ein Verfahren wegen Korruption, Stimmenkauf, Entführung oder Mord ermittelt. Wie konnte es dazu kommen? Sport sei ja nicht politisch, hören wir immer wieder von internationalen Spitzenfunktionären diverser Sportverbände.
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Entgegen den Erwartungen ihres Vorgängers Luiz Inácio Lula da Silva, unter dem sich Brasilien für WM und Olympiade beworben hatte, steckt die Wirtschaft in der tiefsten Krise seit Jahrzehnten. Die Inflation liegt trotz eines Leitzines von über 14 Prozent bei mehr als 10 Prozent und die Wirtschaftsleistung ist 2015 um rund 4 Prozent geschrumpft. Auch wenn die Gründe der politischen und wirtschaftlichen Krise vielfältig sind, ist eines auffällig und verbindet Brasilien mit anderen Austragungsländern: Für Mega-Sportevents werden Milliardenbeträge ausgegeben. Auch wenn man es sich eigentlich nicht leisten kann. Denn gleichzeitig liegen die Menschen in den Krankenhäusern auf den Gängen, werden oft gar nicht mehr aufgenommen, Schulen werden kaputtgespart, der Verkehr und damit auch das öffentliche Transportwesen kollabiert und Sozialleistungen werden– sofern überhaupt existent – gekürzt. Diese Bereitschaft für Spiele Geld ohne Ende zu investieren ist auch den internationalen Sportverbänden nicht verborgen geblieben. Es ist daher nicht überraschend, dass zum überwiegenden Teil Schwellenländer mit kaum ausgeprägten zivilen Kontrollmechanismen den Zuschlag erhalten haben. Die betroffenen Regierungen und die Sportverbände verbindet auch eine gemeinsame Arbeitskultur, die sich durch Korruption, autoritäre Strukturen, das Ignorieren von sozialen Folgen und dem Desinteresse um eine volkswirtschaftliche Vollkostenrechnung auszeichnet. In der folgenden Tabelle sind die Austragungsländer bzw. Städte der Olympischen Spiele sowie der Fußball WM der Jahre 2008 bis 2022 aufgelistet:
Sommer Olympia        Winter Olympia           Fußball WM
2008 Peking                      2010 Vancouver                2010 Südafrika
2012 London                     2014 Sotschi                      2014 Brasilien
2016 Rio de Janeiro         2018 Pyeongchang           2018 Russland
2020 Tokio                        2022 Peking                      2022 Katar

Es zeigt sich bei den internationalen Sportevents Olympia und Fußball WM klar: Demokratien als Ausrichter sind eine verschwindende Minderheit. Von 12 Ländern bzw. Städten sind mit London, Tokio und dem kanadischen Vancouver gerade mal drei Spielstätten in Demokratien beheimatet. Was auf den ersten Blick vielleicht überrascht, ist auf den zweiten Blick eine Konsequenz funktionierender Demokratie: Die Korruptionsskandale um die FIFA oder das Internationale Olympische Komitee sind durch Aufdeckungen wie jene der Panama Papers oder Ermittlungen des US-Justizministeriums ans Tageslicht gekommen. Selbst das lange für sauber gehaltene WM-Märchen 2006 in Deutschland versinkt inzwischen im Korruptionssumpf. In der öffentlichen Meinung stehen Mega-Sportevents spätestens seither für Geldverschwendung, Korruption und kriminelle Machenschaften.

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Wird in demokratischen Ländern die Bevölkerung gefragt, entscheidet sie sich gegen Olympia. Wie zuletzt in München, Hamburg, Stockholm, St. Moritz oder Oslo und zuvor auch in der Stadt Salzburg. In den autoritären Regimen von Schwellenländern wird diese Entscheidung über die Köpfe der Menschen hinweg von einer kleinen politischen Elite getroffen. In der nachstehenden Tabelle werden die ausrichtenden Länder nach dem Grad der Demokratie und dem Korruptionsausmaß benotet:

Sommer OympiaDemo- kratieKorrup- tionWinter OlympiaDemo- kratieKorrup- tionFußball

WM

Demo- kratieKorrup- tion
China14483Kanada79Südafrika2961
UK1610Russland132119Brasilien4476
Brasilien4476Südkorea2137Russland132119
Japan2018China14483Katar13622
Demokratieindex 2014 von The Economist bzw. Wikipedia (Liste von 167 Ländern:

Platzierung von 1 (ausgeprägte Demokratie) bis 167 (Diktatur)

Korruptionsindex 2015 von Transparency International (Liste von 167 Ländern):

Platzierung von 1 (wenig Korruption) bis 167 (viel Korruption)

Würden neben den Austragungsländern auch Sportverbände wie die FIFA oder das IOC in Hinblick auf Demokratie und Korruption durchgecheckt, wäre ein noch deutlich schlechteres Ergebnis zu erwarten. Wenig angebracht ist es als Europäer/in mit dem Finger auf andere Weltregionen zu zeigen. Das IOC und die FIFA haben nämlich ihre Sitze in der Schweiz.
„Sport hat das Potenzial die Welt zu verändern“, schreibt die Mandelas Biografin Evelyn Beatrice Hall. Dem muss man wohl ein „Ja, aber“ hinzufügen: Sport schafft das dann, wenn die aktuelle Debatte den Blick auf soziale, Umwelt und gesamtgesellschaftliche Fragen lenkt und autoritäre und korrupte Strukturen aufgebrochen werden.

Sportliche Wettkämpfe stehen für Fairness, klare Regeln und einen freundschaftlichen Umgang der Wettbewerbsteilnehmer/innen. So weit so schön. Alles heile Welt? Finanzdesaster, Korruption und Ausbeutung lassen daran zweifeln. Mit diesem Beitrag beginnt zu Rio 2016 und den olympischen Spielen eine Zartbitter-Serie unter dem Titel „schneller, höher, ärmer“

Rio

Rio musste Mitte Juni den Finanznotstand erklären. Bereits vor Beginn der Sommerspiele. Bisher kam der Kater meist nachher. Auf die Spiele in London 2012 reagierte die britische Regierung mit Kürzungen beim Sportunterricht in Schulen und im Breitensport. Die Uni Oxford hat berechnet, dass die Kosten bei Olympia durchschnittlich um das 2 ½ Fache überschritten werden. Wenige profitieren, die Rechnung zahlen die Steuerzahler/innen. Korruption, die Zwangsumsiedlung von Tausenden in Brasilien und zu befürchtende 4.000 tote Bauarbeiter in Katar machen deutlich: Transparenz und Menschenrechte zählen bei Megasport-Events nicht.

Zurück zum menschlichen Maß

Ein erstes Umdenken beginnt. Künftig werden die EM-Spiele auf mehrere europäische Länder aufgeteilt. Das kann ein Weg in die richtige Richtung sein. Kein Megaevent an einem Ort, sondern geteilte Kosten, Pflichten, Ehre und Nutzen. Für besonders geltungsbedürftige Herrscher autoritärer Regime wie Russlands Präsident Putin (Fußball WM 2018) oder die Scheichs aus Katar (WM 2022) wird das jedoch nicht ausreichen. Es braucht finanzielle Obergrenzen. Auch zum Schutz der Bevölkerung der Austragungsländer vor diesen Autokraten. Und es braucht eine zweifache „olympische Charta“: Alle Austragungskandidaten verpflichten sich zur Einhaltung der Menschenrechte und definierter Nachhaltigkeitskriterien. Es ist müßig wenn Spitzenfunktionäre in Sonntagsreden die olympischen Spiele 1994 in Lillehammer als letzte Spiele „mit menschlichem Maß“ loben, mit ihrem Handeln jedoch diese olympische Idee immer wieder ins Gegenteil verkehren. Höher und weiter, zugunsten weniger (Sportfunktionäre und bevorzugten Großunternehmen) und auf Kosten vieler, entspricht dem Geist einer entkoppelten Sport- oder Finanzwirtschaft, widerspricht aber dem Gemeinwohl. Der Widerstand gegen Megasportevents dieser Art nimmt Fahrt auf. In Austragungsländern genauso wie in Österreich. Initiativen wie nossojogo.at oder menschrechte-sind-olympisch.at stehen dafür Pate. Solche zivilgesellschaftlichen Initiativen dauern. Sie benötigen Geduld und Ausdauer. Aber sie geben die Richtung vor und könnten letztlich die olympische Idee mit dem menschlichen Maß versöhnen.

Ein Beitrag von Alexandra Schmidt

XelaAb 7. Februar sind in Sochi, Russland die Olympischen Winterspiele. Es heißt richtig „Soooodschi“ und nicht „Sottschi“, wie diese Deutschen es aussprechen. Wie viele werden diesmal über „Curling“ lachen?  Wer fährt hin: Vanessa Mae, weil sie sich qualifiziert hat (ja, die Stargeigerin. Sie fährt dort für Thailand Schi). Thomas Morgenstern, weil er die Karriere nicht mit einem Horror-Sturz beenden wolle. Oder Sportminister Klug, weil er die Regierung repräsentiert. Interessant finde ich, wie viele Leute jetzt darüber gar so entrüstet sind. Dass österreichische Firmen dort 1,3 Milliarden Euro umgesetzt haben hat niemand öffentlich abgelehnt. Guido Westerwelle wäre als Außenminister hingeflogen – hat er im Spiegel-Interview gesagt. Privat sind er und sein Mann aber nicht dabei. Hermann Maier bleibt auch daheim – sein Zeichen gegen das Versammlungs-,  Erwähnungs- und was-weiß-ich-was-für-ein-unerträgliches Verbot von Homosexualität dort. Russische Homosexuelle sagen, dass ihnen die breite Öffentlichkeit jetzt hilft, weil endlich wer hinschaut auf ihre furchtbare Lage. Journalisten sagen, Russland verdeckt mit dem Thema Homophobie die Repressalien im Nordkaukasus und in Abchasien. Dort verschwinden Menschen(rechtlerInnen) einfach so. Und nach der Folter kommen viele nicht zurück. Niemand aus dem Westen darf sich frei bewegen – nur ausgewählte Straßen und Orte sind offen. Die Fotojournalisten Rob Hornstra und Arnold van Bruggen haben das seit dem Olympia-Zuschlag 2007 in „About Sochi“ dokumentiert. Sie waren mehrfach inhaftiert und haben jetzt Einreiseverbot. So unerschrocken möchte ich mal sein, dass ich da trotzdem dranbleibe.

Westerwelle sagte, hinfahren sei ein Zeichen und daheim bleiben auch. Das gefällt mir. Olympische Spiele sind voll von Zeichen. Sportlerinnen aus verfeindeten Staaten treten gegeneinander an und die Unterlegene gratuliert der Siegerin. Überhaupt: in 43 Sportarten treten Frauen an; zB im Schispringen Daniela Iraschko-Stolz, frisch verpartnert. Sie darf sich nicht vom Regenbogen-Thema ablenken lassen, sie hat Chancen auf Gold (für Österreich!). Weiß noch wer, wie viele Knüppel die Verbände den Schispringerinnen vor die Füße geworfen haben bis sie endlich antreten durften? Eine andere Geschichte. Homosexualität war da nicht das Problem, immerhin.

ol1Fast wären diese Olympischen Spiele in Salzburg gewesen. Ich hab damals dafür gestimmt und bei der Vergabe die Daumen gehalten. Jetzt bin ich froh, dass wir kein Eisstadion bauen mussten und trotzdem einen neuen Bahnhof haben. Aber sportliche Großereignisse sind toll. Wer erinnert sich noch: an die Rad-WM ohne einen Regentropfen, an die Stimmung beim Public Viewing am Residenzplatz bei der Fußball-WM, an die Griechen und Spanier bei der EM bei uns und die wunderschönen Salzburg-Bilder, wo alle jubeln? Es ist doch so bei Olympia: Menschen aus aller Welt kommen in Frieden zusammen. Sie matchen sich sportlich: ich wär auch gerne mal im gleichen Bewerb wie Tina Maze, zwar chancenlos – aber die gleich Liga! Oder ich gewinne gar Gold (in Curling könnt ich’s probieren mit viel Training) ;-) Und dann spielen sie für mich die Bundeshymne – wow. Auch zum zuschauen: hautnah Spitzensport erleben, das Gastgeberland kennen lernen, die Leute, das Essen, den Wein und die Fans von überall her…so ein Trip zu Olympischen Spielen erspart einem direkt eine Weltreise. Und für Diplomatie und Politik: Endlich austauschen abseits von „offiziellen Verhandlungen“. Würd ich mir als Präsidentin nicht entgehen lassen. Gut, in Sochi würd ich ein Regenbogen-Halstuch tragen. Als Mitbringsel vielleicht Life-Ball-Einladungen. Oder Schwedenbomben? Ob ich den Mumm dafür hätte? Ich meine, gegen Russland stellt man sich ja nicht mal so nebenbei. Aber dabei sein ist alles.

Das findet wirklich und wahrhaftig, eure Xela

PS: Wer sich für Homosexualität interessiert oder eine Anlaufstelle sucht, hier lang: www.hosi.or.at Wer sich gute Bilder von Politik und Gesellschaft „About Sochi“ machen möchte, hier lang: www.fotohof.at

Ein Gastbeitrag von Gernot Marx

Die Olympischen Winterspiele rücken immer näher und damit auch unsere Verantwortung gegenüber den Menschenrechten in Russland. Das Internationale Olympische Komitee erklärte, dass es ein Grundrecht einer jeden Person sei, seine Meinung auszudrücken und es somit keiner eigenen Klausel zur freien Meinungsäußerung in der Olympischen Charta bedarf. Mit dem Austragungsort der diesjährigen Winterspiele zeigt sich – nach Peking – einmal mehr, wie sehr der Olympische Gedanke von Macht, Geld und Einschaltquoten regiert wird.

Auch wenn Österreich zum zweiten Mal als Austragungsort ausgeschieden ist, seine Wirtschaft profitierte vom Sieg Russlands und wusste ihre Produkte gut zu verkaufen. Im Gegensatz dazu kann ich mich nicht erinnern, dass der Diskussionsbedarf über Russlands Umgang mit Demokratie und Menschenrechten, damals für gleichermaßen Wirbel sorgte.gernot marx

Heute, dreieinhalb Jahre nach der Entscheidung für Sotschi, sieht es etwas anders aus. Mit der Inhaftierung der Band ‚Pussy Riot‘ 2012 wurden die Missstände im Putin-Reich erstmals in einer ungeahnten Intensität über die internationalen Medien und vor allem Soziale Netzwerke bekannt. Mit dem Homosexuellen-Propaganda-Gesetz stellt Russland seit Sommer 2013 jegliche, positive Äußerung über Homosexualität in der Öffentlichkeit und vor Kindern unter Strafe. Die Arbeitsbedingungen der Bauarbeiter in Sotschi ähneln jenen in Dubai und eine nachhaltige Nutzung der Infrastruktur zugunsten der Bevölkerung in Sotschi ist eher unwahrscheinlich. So bekommt die Debatte um die Vergabe der Olympischen Spiele neuen Fahrtwind. Die Öffentlichkeit ruft weltweit zum Boykott auf, trotzdem mangelt es an klaren Aussagen der meisten Staats- und Regierungschefs. Am Jahrmarkt der Eitelkeiten sind wirtschaftliche Interessen und Machtkämpfe die größten Beeinflusser der politischen Nicht-Diskussion.

Diplomatie mit ohne Diskussion

Dieser Tage hagelt es für die Winterspiele reichlich Absagen hochrangiger Politiker. So tanzen von den G8-Staaten höchstwahrscheinlich nur Japans und Italiens Regierungschefs in Sotschi an. Der Deutsche Bundespräsident, seine Amtskollegen aus Frankreich und den USA, die Regierungschefs von Deutschland, Großbritannien, Kanada, Litauen sowie Belgien folgen dem Ruf des olympischen Feuers nicht.

Die wenigsten fanden bislang klare oder gar motivierende Worte für die Leidtragenden und Aktivisten. Dennoch gibt es Beispiele:

          Viviane Reding, die EU-Justizkommissarin und Vizepräsidentin der EU-Kommission sagt, was viele Denken: „Ich werde mit Sicherheit nicht nach Sotschi gehen, solange Minderheiten weiterhin auf diese Weise unter der gegenwärtigen Gesetzgebung behandelt werden“

          Litauens Präsidentin, Dalia Grybauskaite, erteilte Putin ebenso eine Absage aufgrund seines Umgangs mit ihrem Land und der dortigen Menschenrechtslage.

          Die USA entsenden – mit herrlichen Selbstverständlichkeit – deren politische Vertreter mit zwei lesbischen Sportlerinnen zur Eröffnungs- und Abschlusszeremonie nach Sotchi.

512px-Olympic_flag_svgIm Gegensatz dazu fährt Österreichs Politspitze kommentarlos nach Sotschi und setzt sich damit zusätzlicher Kritik aus. Eine Delegation aus Sportlern und Menschen- bzw. Bürgerrechtlern wäre rasch zusammen gestellt und könnte das offizielle Österreich gemeinsam mit Bundeskanzler und Minister repräsentieren. Bislang lässt nur noch das Coming Out des Einen oder Anderen Österreichischen Spitzensportlers auf sich warten – in Deutschland erledigte dies erst kürzlich der ehemalige Fußball-Nationalteamspieler Thomas Hitzlsperger. Gemeinsam könnte man die Athleten in Russland anfeuern und sich vor Ort solidarisch mit Menschenrechtsaktivisten zeigen. Es bleibt jedoch offen, wie die Österreichische Delegation aussehen wird.

Der Mensch als Mittel zum Zweck

Eine fundamentalere Rolle in der Diskussion stellen die Verbände hinter unseren Sportlern dar. Sie müssen sich klar und deutlich von Diskriminierungen aller Art abgrenzen und handeln. Das fällt den Meisten jedoch schon ohne Olympia schwer genug. Hinter dem Gewirr aus regionalen, nationalen und internationalen Sportverbänden und Komitees wächst ein immer größer werdendes, finanzielles Interesse. Männerbünde und Seilschaften schüren Abhängigkeiten und schaffen ein Machtkonstrukt, das den Zustand so mancher Großpartei übersteigt. Hier wird entschieden, welche Sportler, wie gefördert werden und was sie sagen dürfen.ol

Erst zu Jahresbeginn äußerte sich der mächtige Präsident des Österreichischen Skiverbands, Peter Schröcksnadel, in einem Interview wie folgt: „Soweit ich weiß, ist Homosexualität in Russland nicht verboten. Es ist nur verboten, offensiv dafür zu werben. Ich will das nicht gutheißen. Aber mir ist es auch lieber, es wird für Familien geworben, als es wird für Homosexualität geworben.“ Kurz darauf folgte eine Stellungnahme von ÖOC-Chef Karl Stoss, in der er verlautbarte, dass die Diskussion rund um Menschenrechte und Olympia nicht auf dem Rücken des Sports, sondern generell austragen werden müsse. Stoss bestätigte, dass es auch um wirtschaftliche Interessen geht: „Da muss man aber auch die Wirtschaftsbeziehungen infrage stellen. Und davor würde ich warnen.“ Warum Stoss davor warnen würde ist klar. Sein Vorstandskollege Schröcksnadel hält immerhin die Anteile mehrerer Skigebiete und mehrheitlich an der feratel media technologies AG. Zudem ist er Koordinator des Förderprojekts für die Olympischen Sommerspiele 2016 in Rio. Von der Republik Österreich wurden ihm außerdem ein Professortitel sowie das große Ehrenzeichen um Verdienste für die Republik verliehen. Die Erläuterung, persönlicher und wirtschaftlicher Interessen im Sport, könnte man ewig weiter führen. Leider bestätigen die Ausnahmen noch nicht die Regel. Die wenigen, positiven Beispiele müssen an dieser Stelle aber erwähnt werden.

          Das australische Bobfahrteam wird von der Anti-Homophobie Bewegung ‚Principle 6‘ gesponsert. Gegen einen symbolischen Beitrag trägt das Team das Logo der Bewegung.

          Ex-Tennisstar Martina Navratilova und Basketballprofi Jason Collins kritisierten das IOC bei einer Veranstaltung der UNO, weil es zu wenig für den Schutz Homosexueller Sportler tue

          Der ehemalige Präsidenten des Deutschen Fußballbunds – Theo Zwanziger – ruft gemeinsam mit Prominenten das deutsche Olympiateam dazu auf, sich in Sotschi für die Rechte von Schwulen und Lesben einzusetzen.

Im Kampf um die Menschenrechte ist es wenig verwunderlich, wenn sich Unmut gegen die sportliche upper class und das politisches Stillschweigen breit macht. Wer jetzt nicht handelt, ertappt sich bald als gleichgültig und monoton funktionierende Konsum-Hure des Sports. Gemütlich vor dem Fernseher, jubelnd auf Tribünen, in Diskussionen mit Freunden und beim Kauf von Sportartikeln der Olympia-Sponsoren. Eben „Olympia alla puttanesca“.

Die Olympischen Spiele stehen vor der Tür und damit das Motto „schneller, höher, weiter“. Es gibt wohl keine Zeit in der dieses Motto unser Leben tagtäglich prägt. Beim Sport kann ich das ja noch nachvollziehen, der Sinn der Sache ist ja für die SportlerInnen zu gewinnen. Und für die, die keine Chance auf den Gewinn haben gibt es ja das zweite olympische Motto: „Dabei sein ist alles!“.

In unserer modernen Gesellschaft verhalten wir uns aber oft wie siegeswillige OlympionikInnen, obwohl die wenigsten von uns wohl Olympiareife hätten. Da kann uns der Bus nicht schnell genug kommen, im Facebook kann ein „Gefällt mir“ nicht schnell genug gehen. Wir sollten auf alles sofort eine Antwort haben, ein Problem muss ruckzuck gelöst sein. Wer will schon länger als nötig an der Supermarktkasse stehen? Und wenn die Amazon-Lieferung nicht innerhalb 72 Stunden da ist, dann werden wir ungeduldig. Der Sommer soll schon im März da sein und spätestens Ende Oktober wollen wir eine Schneedecke fürs Skivergnügen.

Was in unserem Alltag vielleicht ein persönliches Ärgernis ist, hat in der Politik fatale Auswirkungen. Das können wir gerade in der verkorksten europäischen Politik erleben. Fast täglich schreit der berühmte „Markt“, dass Feuer am Dach ist und morgen die Welt aus den Fugen gerät. Die Politik versucht alles das Feuer zu löschen. Ist der erste Brand eingedämmt, fängt es am anderen Eck zu glimmen an. Regierungen entscheiden auf dem gefühlt 150. Gipfel und die nationalen Parlamente winken die Entscheidungen durch. Alles unter dem Druck jener, die die Ursache der Krise sind, ob Banken, Hedgefonds oder WirtschaftswissenschaftlerInnen. Es wird Zeit auf die Bremse zu steigen und zu entschleunigen. Es braucht wieder die Zeit über die großen und kleinen Probleme nachzudenken, zu hinterfragen und zu debattieren. Und dem Motto des guten alten Konfuzius zu folgen: „In der Ruhe liegt die Kraft!“