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von Michael König

Nach dem Tod eines für uns bedeutsamen Menschen fragen wir als Trauernde oftmals nach seinen letzten Worten. Wir geben diesen zuletzt gesprochenen oder geschriebenen Worten besondere Bedeutung, oder wir suchen nach möglichen Deutungen für uns. Claudia Stöckl fragt ihre Gäste in der Ö3-Sendung „Frühstück bei mir“ oftmals: „Was sollen Ihre letzten Worte sein?“ Wir glauben, dass diese letzten Worte die Lebensessenzen eines Menschen nochmals in verdichteter Weise sichtbar machen oder vielleicht so etwas wie ein „Botschaft“ für uns beinhalten können.

Es überraschte mich, als ich vor einiger Zeit die letzten Worte von Martin Luther las, von ihm in der Nacht vor seinem Tod selbst aufgeschrieben: „Wir sind Bettler, das ist wahr“.

Ich frage mich seitdem immer wieder einmal, was Luther mit diesem Satz wohl gemeint haben könnte und ob uns sein Schlusssatz auch für unsere Situation heute etwas sagen könnte. Wir können versuchen, Luthers letzte Worte aus seinem theologischen, historischen, sozialen, geistigen und wohl auch persönlichen Lebenskontext heraus zu deuten. Luther kann wohl nicht gemeint haben, dass wahrlich alle Menschen Bettler sind. Der Satz würde dann wenig Sinn geben. Auch wenn Armut im 16. Jahrhundert ein Massenphänomen war: Nicht alle Menschen waren Bettler. Ich glaube daher, Luther wollte uns damit etwas anderes sagen.

Die Verständnisspur, die sich mir auftut, geht von jenen Menschen aus, die heute auf Salzburgs Straßen und Plätzen sitzend um ein Almosen betteln. Sie wenden sich mit ihrer geöffneten Hand und manchmal auch mit ihrem erwartungsvollen Blick an uns vorübergehende Menschen. Sie sind angewiesen auf ein menschliches DU, auf ein Gegenüber, das ihnen etwas gibt, ohne dass sie irgendeine Form der Gegenleistung bieten können.

Was ist Gnade?

Luther hat sich in seinem theologischen Werk zentral mit dem Begriff der Gnade beschäftigt. Nicht durch fromme Werke, durch eigene Leistungen oder durch Ablässe können wir uns die Liebe Gottes „verdienen“ und das Geheimnis Gottes ergründen, meint Luther. Wir sind vielmehr Empfangende der Liebe Gottes. Voraussetzungslos wird uns diese geschenkt. Es gibt allerdings ein aktives Moment in diesem Mensch-Gott-Bezug: Das Sich-Öffnen und Offen-Halten für diese Erfahrung der Liebe Gottes.

Auch bettelnde Menschen sind in keiner rein „passiven“ Position, wenn sie Betteln. Sie halten ihre Hand aktiv geöffnet für die Gabe ihrer Mitmenschen. Ich glaube, dass das der eigentliche Verständniskern der letzten Worte von Luther ist: Wir können uns Gott gegenüber nichts verdienen, aber wir können etwas tun, dass die „Gnade Gottes“ in uns wirksam werden kann. Wir können uns – so wie das die Geste bettelnder Menschen ist – bereit halten für das Wirken Gottes in und an uns. Dieser Gedanke mehr in säkularen Bezügen ausgedrückt könnte bedeuten: Wir sind immer wieder angewiesen auf ein DU, das uns stützt, fordert und fördert, ohne immer gleich eine Gegenleistung bringen zu können.

Bin ich ein Bettler?

Die geöffnete Hand bettelnder Menschen ist für mich so gesehen ein Symbol für das menschliche Leben – natürlich nur in einem Aspekt: Menschliches Leben lässt sich nicht nur in Kategorien von Geben und Nehmen, von gleichwertigen Austauschbeziehungen, von „Leistung und Gegenleistung“ erfassen. Wir sind nicht nur selbstbestimmte Gestalter unseres Lebens, wir sind nicht immer unseres eigenen Glückes Schmied. Manchmal sind wir einfach nur Angewiesene auf ein DU, das uns hilft, ohne Gegenleistung, gerade in Zeiten von Krisen und Not, während der Erfahrung von Krankheit oder eines Unglücks. Manchmal bleibt einem Menschen mitunter nur mehr die Haltung des wartenden Bittens, des Erhoffens, dass uns das gegeben werde, was uns gut tut, was wir nötig haben, was wir zum Leben brauchen. Nicht immer steht es in unserer Macht, dass wir das auch bekommen.

Luthers letzter Satz ist für mich als Mensch des 21. Jahrhunderts ein Stachel, der das Nachdenken über das eigene Sein in die Tiefe führt. Ist das wirklich wahr, dass ich in gewisser Weise ein „Bettler“ bin? Angenehm, geschweige denn leichtgängig finde ich diesen Gedanken nicht. Ich fremdle mit diesem Gedanken, aber genau das Fremde daran ist es, das zum Nachdenken anregt.

ein Beitrag von Heinz Schoibl

Notreisender in Salzburg zartbitterGanz pragmatisch denke ich mir zur Frage der Notreisenden, die in Ermangelung von Angeboten der Notversorgung unter Brücken, in Parks oder im Hotel Abbruch (wild) kampieren, dass hier keinesfalls die Kampierverordnung der Stadt Salzburg zur Anwendung kommen darf und dass Vertreibung total unsinnig ist. Schutz vor Unbill und Gefahr (z.B. durch Hochwasser) ja! Aber doch nicht in Form einer Vertreibung ohne Ziel, Herz oder Verstand. Damit kommt es bestenfalls zu einer Verlagerung des Problems an einen anderen mehr oder minder öffentlichen Ort, an dem innerhalb kürzester Zeit wieder eine „Gefährdung der öffentlichen Ordnung“ festgestellt werden kann, erneut Klagen der AnrainerInnen auftreten und aufs Neue der Ruf nach – ja, wonach wohl! – ach ja: Vertreibung ertönt, dem die Stadt im Auftrag zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung nachkommen muss.

Vor dem Hintergrund der x-fachen Vertreibungserfahrung (ist das eigentlich in irgendeiner Form dokumentiert?) sollten wir wohl einmal so weit sein und uns wirklich eingehendere Gedanken über die zugrundeliegende Sachlage sowie über adäquatere Strategien und Handlungsoptionen machen.

Die Ausgangslage
Faktum ist, dass es keine bedarfsdeckenden Vorsorgen für die Basisversorgung der anwesenden Notreisenden gibt. Die 14-Tage-Regel in der Arche Nord / Süd ist bestenfalls eine Notlösung, aber eigentlich eben keine Lösung. Die Notreisenden können es sich schlicht nicht leisten, bereits nach zwei Wochen – ohne auch nur halbwegs reguläre Verdienstmöglichkeiten während dieser Zeit – wieder zurück in die Herkunftsregionen zu fahren. Bis dahin haben sie bestenfalls die Fahrtkosten zusammengebettelt! So oder so wird den meisten nichts anderes übrig bleiben, als über einen längeren Zeitraum in Salzburg zu bleiben, zumal sich ihre Notreise sonst schlichtweg nicht rechnet. Unabhängig davon, ob sie hier Angebote der Basisversorgung vorfinden, letztlich auch ungeachtet der Beeinträchtigungen und Gefährdungen, denen sie hier aufgrund von Kälte, Nässe, Frost und Unwirtlichkeit ausgesetzt sind, wird die Dauer ihres Aufenthalts in Salzburg in keinem Verhältnis dazu stehen, wie lange sie auf Not- und Basisversorgung zählen und diese nützen können. Für sie steht im Vordergrund, finanzielle Mittel zu lukrieren. Für ihr Überleben, um ihre Angehörigen versorgen und pflegen zu können, um es sich leisten zu können, wieder nach Hause zu fahren, sind sie darauf angewiesen, in Salzburg zu bleiben und – so gut es eben geht – mit dieser belastenden Situation umzugehen.

Zwangsweise werden sie sich nach der Zeit, in der sie im Notquartier unterschlüpfen und Basisversorgung nützen konnten, einen Unterschlupf suchen: unter Brücken, im Hotel Abbruch, im Gebüsch und unter Bäumen mit den bekannten Folgen:

Sie stören die öffentliche Ordnung, sie verdrecken das Umfeld, sie verschrecken (nicht nur) Minderjährige, die auf ihrem Schulweg an diesen „Horden“ vorbei müssen, und provozieren damit (ob sie dies wollen oder nicht) den Unmut bis Zorn von AnrainerInnen.

  • Bis sie eben vertrieben werden
  • bis sie erneut mit Gittern ferngehalten werden
  • und ganz einfach eben wieder woanders unterschlüpfen.

 

Strategischer Rahmen
Option I:    „Muddling through!“ (oder: the same procedure than every month)
Aktuell wird aus der Not des Nicht-Besser-Wissens heraus die Option eingeschlagen, jeweils zu warten, bis es zu AnrainerInnen-Protesten kommt. Nach einer Phase des Nicht-Hinschauens und der Nicht-Intervention folgt eine kleine Vertreibung ins Nirgendwohin. Und die Notreisenden werden in der Folge zwangläufig, weil sie gar nicht anders können, woanders ihren Unterschlupf aufschlagen und – bestenfalls etwas zeitversetzt – beginnt alles wieder von vorne. Das ist unbefriedigend, mühsam und belastend für alle Beteiligten!

 

Option II:   „Modell Favela“
Die naheliegende aber meines Erachtens äußerst gefährliche Option, wie zum Beispiel zuletzt in Salzburg-Süd modellhaft vorgestellt: Wir lassen zu, dass sich die Notreisenden irgendwo am Stadtrand eine illegale Siedlung aus Baracken, Zelten, Kartons etc. zusammenbasteln. Wir schauen zu, wie ein Slum oder eine Favela am Stadtrand entsteht und warten, bis es wuchert – mit oder ohne Mobil-Toilette ist das letztlich eine Kopie davon, was in den vergangenen Jahrzehnten in Brasov, Arges oder anderen Bezirken Rumäniens, in vielen Städten Süd-Ost-Europas (vgl. etwa Stolipinowo / Bulgarien) passiert ist bzw. immer noch passiert. Diese Vorstellung ist nicht nur unvorstellbar, sondern höchst unbefriedigend, weil sich unter diesen Vorzeichen Armut, Elend und Ausgrenzung nachhaltig verfestigen.

 

Option III: „Aktiv begleitete und unterstützte Duldung von Selbstorganisation inkl. Infrastruktur“
Solange die Angebote der Basisversorgung nicht in Deckung mit dem tatsächlichen Bedarf (so viele wie da sind, so lange, wie sie da sein müssen, damit es sich rechnet) stehen, oder gebracht werden können, sehe ich nur die Chance einer konzertierten Aktion und in einer prekaristischen und zeitlich jeweils befristeten Duldung des Aufenthalts einer Gruppe von Notreisenden an Örtlichkeiten, die ihren Bedürfnissen nach Schutz vor der Witterung zumindest halbwegs entsprechen. Das kann z.B. im Kontext eines leerstehenden Gebäudes oder eines Verschlages sein, der mit einer mobilen Hygieneeinheit (Toilette und Waschraum), sowie eventuell mit einem kleinen Kiosk mit Kochgelegenheit ausgestattet ist.

Ergänzend dazu benötigt diese Lösung eine Begleitung durch StreetworkerInnen, deren wesentliche Funktion darin liegt, zum einen Modelle und Strukturen der Selbstorganisation zu fördern und zu unterstützen und zum anderen eine konzertierte Gemeinwesenarbeit und die Unterstützung der AnrainerInnen im Wohnumfeld zu gewährleisten.

Im Interesse öffentlicher Ordnung und subjektiver Sicherheitsgefühle steht hier natürlich im Raum, dass AnrainerInnen eben nicht auf sich gestellt bleiben und sie keine Angst haben sollten. Sondern dass ihnen – zumindest indirekt – auch ein konkreter Nutzen daraus entstehen kann und dass sie sich mit dieser etwas auffälligen Nachbarschaft, wenn schon nicht anfreunden, dann zumindest arrangieren können.

 

Heute ist mir wieder mal das Wort „Randgruppe“ untergekommen. Und heute habe ich beschlossen dieses Wort nicht mehr zu gebrauchen. Beim Obusfahren hatte ich genug Zeit darüber nachzudenken, was es für mich bedeutet. Das Wort „Gruppe“ ist ja ganz in Ordnung. Es gibt unzählige Gruppen. Jeder von uns gehört zu mehreren Gruppen, die sich durch etwas definieren. Etwa eine Volkstanzgruppe, eine Berufsgruppe oder die Fröschegruppe im Kindergarten. Das Wort „Rand“ gibt allerdings dem Wort „Gruppe“ einen richtig negativen Beigeschmack. Weil der „Rand“ halt nicht in der Mitte ist und der „Rand“ so eine Grenze bezeichnet, hinter der sich oft etwas Unbekanntes auftut. Vor 500 Jahren hatten Seefahrer noch große Angst an den Rand der Welt zu kommen und dann einfach runter zu fallen. Das ist irgendwie geblieben, dass sich hinter dem Rand was verbirgt, was Angst macht. Als Randgruppen werden viele verschiedene Menschengruppen bezeichnet. Das können sein:

Menschen, die eine Beeinträchtigung haben

Menschen, die wenig Geld oder auch sehr viel verdienen

Menschen, die einer ethnischen, religiösen oder kulturellen Minderheit angehören

Menschen, die eine besondere Krankheit habenmüll

Menschen, die in einem besonderen Viertel wohnen

Menschen, die nicht heterosexuell sind

Menschen, die einem gesellschaftlich geächteten Erwerb nachgehen, wie Prostituierte oder Bettler

Menschen, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind

Die Liste kann beliebig fortgesetzt werden.

Ich bin ja keine Bevölkerungsstatistikerin, aber Daumen mal Pi gerechnet dürften alle Mitglieder aller Randgruppen zusammengerechnet eine schöne Mehrheit ergeben. Also ist der Begriff Randgruppe eigentlich irreführend, denn alle gehören doch dazu zu der großen Gruppe der Menschen.

Ab heute ist das Wort „Randgruppe“ aus meinem Wortschatz gestrichen.