Migration 80/20 – Kapitel 12 aus den Leiden des jungen Christian N.

,
nam3

So lässt es sich schreiben

Meine Lieben, das Ende naht. Keine Angst, mir geht es gut. Sehr gut sogar. Heute kommt das letzte Kapitel, zur Vollendung des ganzen Dutzend. Ich nutze die laue Sommernacht und habe mich zum Schreiben auf den Balkon drapiert. Dank nur ganz geringem Lüfterl konnte ich auch den Tischkamin befeuern, zwecks Idylle. Zur eigenen Belohnung habe ich mir eine Flasche Champagner geöffnet und frische Tiroler Himbeeren ins Martiniglas gekippt.

Meine treuen Leserinnen und Leser werden sich denken, der alte Zausel ist schon nach einem Glas Champagner abgefüllt und verwechselt Miktion (hängt mit dem Lulu zusammen) mit Migration. Mitnichten, ich bin geeicht, was edle Tropfen anbelangt. Die Erklärung folgt natürlich wieder im Kapitel, wo verrate ich nicht. Man muss schon alles lesen. Ich hab ja quer Beet so gut wie alles erzählt, was meine Erkrankung und Genesung betrifft. Einiges konnte ich nur streifen, hier nun vom Rand ins Detail.

Wenn das Rollwagerl nicht rollt

nam2Begonnen habe ich meine Erzählungen ja mit der eingeschränkten Mobilität. Das ganz marode Kapitel ist gänzlich erzählt, ich greife noch mal das Fortkommen mit dem Roll-wagerl auf. Die meisten Menschen kennen mich als gutmütigen Menschen, der sehr lange die Contenance behält und ruhig vor sich hinlächelt, auch bei ärgeren Sachen. Was aber nicht heißt, ich wäre grenzdebil! Das Schieben eines Rollstuhls auf hiesigen Wegen ist wahrlich eine Tortur. Wenn mal fünf Meter eben dahinzurollen ist, freue ich mich wie ein kleines Kind beim Geburtstag. Straßenübergänge und die folgenden Randsteine sind nur mit äußerster Vorsicht zu benützen. Um nicht als bloßer Geschichtenerzähler zu gelten, den man milde übers Haupthaar streichelnd belächeln kann, biete ich mich und mein Gefährt gerne zu Demonstrationsfahrten an. So eine hatte ich vor etwa drei Wochen. Der Vizebürgermeister kontaktierte mich, um über die Barrierefreiheit der Gemeinde zu erfahren. Gerne nahm ich das an, gestartet haben wir die Tour durch unsere schöne Gemeinde nach dem Mittagessen beim Dorfwirt. Hierzu wurde ich dankenswerter Weise eingeladen, hätte aber nicht sein müssen. Es muss nicht immer alles gratis sein. Äh ja, der Sprudel zeigt Wirkung. Beim Palaver im Gastgarten erzählte ich grob umrissen meinen kränklichen Werdegang und die bisherigen Probleme. Gestärkt von der guten Küche ging es los. Schon nach ein paar Metern erkannte er den Wahrheitsgehalt meiner Aussagen. Was ja auch nicht zu bezweifeln war, ich war schließlich Versicherungsvertreter! Da wie gesagt so gut wie kein Trottoir eben ist, kam ich nur in Schlangenlinien voran. Gerne ließ ich mich auch schieben, zur Demonstration. Das ganze Sammelsurium wurde abgedeckt.

Mit am Schlimmsten im Ort ist der Zebrastreifen an der Hauptstraße mit dem meisten Verkehr. Da ist an einer Seite der Randstein so hoch, dass man ohne Hilfe fast nicht hochkommt. Ich bin ja jetzt jung, huch der zweite Fehler, aber wenn da mal ne schwache Oma oder ein schwacher Opa die Straße im Rollwagerl queren möchte, die werden von den nichtzeithabenden Autofahrern hemmungslos niedergehupt beim Anstehen am Straßenrand. All das haben wir fotografisch festgehalten. Auch er hat erkannt, dass vieles dem aufrecht gehenden Menschen nicht auffällt. Ging mir ja auch so. Solch eine Tour sollten viele machen, am besten sogar in einem Leihrollstuhl. Nicht nur die Lokalpolitiker, auch die Planer und Architekten. In meinem Fitnessstudio wurde die Behindertenkeramik dermaßen eng ausgeführt, ich komm da gerade noch zurecht, aber auch nur, weil ich schon gut bei Kräften bin.

Wenn es mal schneit

Auf mich zugekommen ist der Vizebürgermeister wohl auch, weil er noch in Erinnerung hatte, dass ich im Winter knapp zwei Wochen nicht aus dem Haus gekommen bin, weil die Straße und der Gehweg vom Anwesen weg so gut wie nicht geräumt wurde. Ich kam nur außer Haus, wenn ich vom Roten Kreuz mit dem Mercedes abgeholt wurde. Mehrmals rief ich in der Gemeinde an, nichts geschah, weil sich niemand zuständig fühlte. Die Straße in der ich wohne, benannt nach dem Kaiserdarsteller aus der Sissi-Trilogie, ist die Karlheinz Böhm Straße, die darauf folgende ist die Friedensstraße. Beides sind scheinbar Privatstraßen. In der Sissi-Darsteller Straße sind zwei Häuser nach dem betreubar und betreutes Wohnen Prinzip. Selbst wenn die Gemeinde sich da außen vor fühlt, denke ich, es obliegt ihr trotzdem für freie Wege zu sorgen, notfalls mit Rechnungsstellung an die Hausbetreuer. Es ist schon frustrierend, wenn man sich endlich durchgerungen hat und den Rat des Therapeuten befolgt, ins Fitnessstudio zu rollen und man CAM00173[1]kann dann nicht. Furchtbar! Es fällt ja nicht nur der dringend benötigte Kraftaufbau weg, man kommt ja auch nicht dazu, mit gesenktem Kopf perfekt unauffällig in der Umkleide zu lugen. Was denn? Wie gesagt, die Libido kam ja schon zurück. Beim Räumthema schaltete sich der Vizebürgermeister ein und drohte, ich würde mich an die Presse wenden. Was gar nicht so abwegig war, ich war kurz davor. Tags darauf war alles picobello.

Die 80/20 Busfahrer

Zurückkommen möchte ich auch noch mal auf die Busfahrerei. Es ist wirklich erschreckend, was man sich da alles bieten lassen muss. Hier gehört dringend eine umfangreiche Schulung her, wie man mit Menschen umgeht. Nicht nur mit Behinderten im Rollwagerl, sondern im Allgemeinen. Mir ist es wirklich ein Rätsel, wie man nur so drauf sein kann. Wer nicht gerne Kontakt mit Menschen hat, soll sich vielleicht um eine Arbeit in einem Lager oder wo auch immer bewerben. Natürlich weiß ich auch, dass es unmögliche Fahrgäste gibt. Nur wie komme ich dazu, dass ich den Grant vom Fahrer abbekomme. Oft kommt es mir auch vor, manche haben Angst, dass wenn sie den Rollstuhl anfassen, sie umgehend auch behindert werden. Man muss mir ja nicht mit überbordender Freundlichkeit kommen, aber mit einer gewissen Grundfreundlichkeit.

Sehr auffallend ist der Unterschied bei der Herkunft der Fahrer. Die mit sogenanntem Migrationshintergrund haben eine Freundlichkeitsquote von 80 % und sogenannte Hiesige von 20 %. Ha! Hier haben wir die versprochene Erklärung. Dieses Verhältnis lässt tief blicken. Die Handvoll Chauffeusen sind durchweg freundlich und hilfsbereit. nam1Vielleicht sollte man bei den Schulungen dem Fahrpersonal nahelegen, dass sie sich einfach mal vorstellen sollen, sie säßen auch in einem Rollstuhl und welche Behandlung sie sich da wünschen würden. Andererseits, braucht man für Benehmen als Erwachsener wirklich eine Schulung?

So meine Lieben, nun ist´s soweit, die Leiden sind erzählt und ich schließe hiermit meine Erzählungen. Ich hoffe, ich konnte einen kleinen Einblick gewähren, wie so eine Krebserkrankung das Leben verändert. Alles Liebe und Gute da draußen, Gruß und Kuss an alle.

Euer Christian Namberger, Oberinspektor in Ruhe

zu Kapitel 11