Manchester by the Sea – zu Unglück verurteilt
Während in den USA immer zu Jahresanfang cineastische Saure-Gurken-Zeit herrscht, lohnt es sich bei uns, im Jänner ins Kino zu gehen. Viele der anspruchsvolleren Filme mit guten Aussichten auf Oscars laufen nämlich jetzt in Europa an. Manchester by the Sea wird sich hoffentlich viele verdiente Auszeichnungen holen. Die Gunst der Kritiker hat er bereits.
Worum gehts?
Lee Chandler ist ein schweigsamer Typ. Er arbeitet in Boston als Hausmeister für vier Wohnhäuser. Er schippt den Schnee, kümmert sich um verstopfte Toiletten und entsorgt Sperrmüll. Er erledigt seine Arbeit gut, aber die Bewohner beschweren sich über mangelnde Freundlichkeit. Nicht einmal ein Gruß kommt ihm über die Lippen. Abends geht er in die Bar. Allein. Auf die Annäherungsversuche von Frauen reagiert er nicht und bei Männern braucht er keinen Anlass, um eine Prügelei zu beginnen. Als ihn die Nachricht erreicht, dass sein Bruder ins Krankenhaus gebracht wurde, bricht er sofort in seine Heimatstadt Manchester by the Sea auf. Dort muss er sich seinem früheren Leben stellen.
Nach und nach gibt der Film Details aus Lees Leben preis. Sympathisch? Vielleicht wird er das nie. Aber es tut sich die Geschichte eines Mannes auf, der von Schuldgefühlen geplagt ist. Daher die abweisende Art, das manchmal fast sture Schweigen und sein Leben, das nur aus seiner Arbeit und einer Ein-Zimmer-Behausung im Souterrain besteht.
Sein eigener Gefangener
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Lee ist ein Sträfling im selbst gewählten Gefängnis. Und er ist sein eigener strenger Wärter, der ihm jede Freude versagt – besonders Beziehungen zu Menschen. Auffällig ist, dass Lee nicht einmal bereit ist, einen Rat zu geben. „Das musst du selbst entscheiden“, hört man ihn immer wieder sagen. Mehr ist von ihm nicht zu erwarten. Sein innerer Gefängniswärter hat nämlich beschlossen, dass Lee in keiner Weise in Entscheidungen eingebunden sein soll, die andere Menschen betreffen. Dabei scheint er ein fürsorglicher Mensch zu sein. Lee wird als Vormund für seinen Neffen bestimmt und alleine der Gedanke daran überfordert ihn bereits.
Casey Affleck spielt Lee zurückhaltend und authentisch. Ohne große Gesten, ohne große Emotionen – nicht wie bei so mancher „Oscar-Performance“. Er ist von Anfang bis zum Ende glaubwürdig als Mensch, der sich emotional und sozial völlig zurückgezogen hat. Leicht zugänglich ist der von ihm dargestellte Lee nicht, doch am Ende gewinnt er trotzdem unser Herz – oder zumindest unser Verständnis.
Auch alle anderen Rollen sind hervorragend besetzt – vom 16-jährigen Neffen Patrick [Lucas Hedges] über Lees Bruder Joe [Kyle Chandler] zu Lees Exfrau Randi [Michelle Williams]. Letztere hinterlässt trotz kleiner Rolle einen starken Eindruck und sorgt für die intensivsten und bewegendsten Momente im Film.
Trotz des langsamen Tempos zieht sich der Film nicht, denn jede Szene erzählt uns etwas mehr über Lee. Wie wohlüberlegt jede Szene ist, wurde mir erst im Nachhinein klar. Erst als das Bild vollständig war und ich verschiedene Stationen im Film Revue passieren ließ, erkannte ich, dass bei den gezeigten Begebenheiten oder Alltagstätigkeiten keine Belanglosigkeiten dabei sind.
Manchester by the Sea ist nicht aufdringlich und bemüht sich nicht, uns daran zu erinnern, dass er ein tiefschürfender Film ist. Die Stimmung in der winterlichen Stadt am Meer mit schmutzigem See am Straßenrand und wolkenverhangenem Himmel unterstreicht zwar die bedrückte Stimmung, doch ohne symbolbelastete Bilder. Am Ende wird das Publikum sogar ein wenig belohnt, denn es gibt Anzeichen, dass Lee sich in seinem selbstgewählten inneren Gefängnis Hafterleichterungen gewähren wird.
Meine Bewertung auf IMDB: 10 Punkte
Bei Manchester by the Sea stimmt alles: von den Darstellern über die Atmosphäre zu den Dialogen. Es ist keine leichte Kost, doch durch die Authentizität der Geschichte und ihren sorgfältigen Aufbau entstehen selbst beim sehr langsamen Tempo des Films keine Längen, die man am liebsten schnell vorspulen möchte.
%Vorschaubild by: Henry Zbyszynski; Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/legalcode]