Wenn ich mit dem Zug fahre, dann kaufe ich immer am Bahnhof Lesestoff. Meist Zeitschriften oder Bücher, die ich sonst nicht lesen würde. Einmal habe ich mir sogar eine Zeitschrift über Engel gekauft, war ganz amüsant, aber Engel sind nicht mein Harry Belafonte LPThema heute. Letzte Woche dauerte die Zugfahrt etwas länger und da wäre mir eine Zeitschrift zu wenig gewesen, also habe ich mir den Büchertisch vorgenommen. Am Bahnhof gibt es vorwiegend Krimis und Lebenshilfebücher. Ich schmökere ein wenig und dann fällt mein Blick auf die Autobiografie von Harry Belafonte „My Song“. Sofort erinnere ich mich an meine Kindheit, an das Plattenregal meiner Eltern. Da gab es eine Harry Belafonte Doppel-LP unter Schallplatten von Memphis Slim, über Chris Barber bis zu Mahalia Jackson. Als Kind habe ich oft Harry Belafonte gehört, mein Fuß fängt im Bahnhofskiosk zu wippen an, im Stillen singe ich „Angelina, oh Angelina, please bring down your concertina…“. Lieder Harry Belafonte

 

Ich kaufe das Buch. Meine Erwartung war eine Biografie über einen berühmten Sänger und Showstar zu lesen, der einfach schöne Lieder geschrieben und gesungen hat, die gute Stimmung verbreiten. Ja und schon auf den ersten Seiten war ich in der Welt der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Ich muss gestehen, ich habe nicht gewusst, dass Harry Belafonte einer der Großen dieser Bewegung war. Sein Engagement für die Rechte der Afroamerikaner an der Seite von Martin Luther King. Belafonte ist in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen, er stieg in den 1950er Jahren zu einem Superstar auf. Aber er ist schwarz und somit war er ein Bürger zweiter Klasse. Er schildert seine Erlebnisse auf Tournee in den Südstaaten. Einmal ging er auf die Toilette für Weiße, Sekunden später stand ein Weißer hinter ihm, mit geladener Waffe. Sollte er es wagen zu pinkeln, wäre er tot. In seinen Hauptrollen in diversen Hollywoodfilmen durfte er die weiße Hauptdarstellerin natürlich nicht küssen, das wäre eine Rassenschande gewesen. Erst 1968 gab es in einer Folge von Star Strek einen angedeuteten Kuss zwischen Captain Kirk und Lieutenant  Uhura. Im Jahre 2013 unvorstellbar, dass das ein Problem sein sollte. Preis LP 1975

Die Autobiografie habe ich verschlungen, mir auf You Tube Belafontes Lieder angehört. Und im Kasten habe ich noch die Schallplatte aus dem Jahr 1975 gefunden, die ich als Kind so gerne gehört habe. Sogar das Preisschild ist noch dran, 183 Schilling war meinen Eltern diese Doppel-LP wert. Und ich freue mich, dass ich Belafonte wiederentdeckt habe, seine Lieder und jetzt auch noch sein vorbildliches politisches Engagement. Nur Plattenspieler habe ich leider keinen mehr…

Das Buch: http://www.kiwi-verlag.de/das-programm/einzeltitel/?isbn=978-3-462-04408-9

Angelina: http://www.youtube.com/watch?v=h0Qnfk6JKVM

Manchmal gibt es Zufälle, die keine sein können. Es ist Abend auf Burgazada, nach einer Kartenrunde plaudern wir über unsere Urlaubslektüre, kommen über Umwege auf Elias Canetti zu sprechen. Auf seine Bücher, auf seine Herkunft und sein Leben. Canetti war sephardischer Jude. Seine Vorfahren waren Juden, die nach der Rückeroberung Spaniens im 15. Jahrhundert durch die Katholiken, gemeinsam mit den Muslimen flüchten mussten. Die tolerante Politik der Sultane ermöglichte vielen Juden die Ansiedelung im damaligen Osmanischen Reich, von Nordafrika bis auf den Balkan. Bewahrt haben sich die sephardischen Juden über die Jahrhunderte ihre jüdisch-spaniolische Sprache, auch Ladino genannt, die  Muttersprache Canettis. Im 20. und 21. Jahrhundert ging und geht diese Sprache aus dem Mittelalter verloren. Viele sephardische Juden wanderten aus dem ehemaligen Osmanischen Reich und der heutigen Türkei nach Israel und andere Länder aus. Nur mehr wenige Juden in Istanbul sprechen Ladino. Ihre Geschichte hat mich schon während meines Studiums stark beschäftigt und beeindruckt.FotoSartorius

Am nächsten Morgen schmökere ich in dem Buch „Die Prinzeninseln“ von Joachim Sartorius. Auf Seite 118 stoße ich auf eine Stelle, in der es heißt:“Hier (Büyük Ada) sitzen in der nächsten Nische nicht drei junge, sondern drei ältere Damen. Ich traue meinen Ohren nicht. Sie sprechen Ladino, die Sprache der Sephardim, die Ende des 15. Jahrhunderts hierhergekommen sind. … Jetzt im Jahre 2008, diesen alten Frauen zuzuhören, elektrisiert mich.“

Spannend, wir sprachen über Canetti, Ladino und jetzt die Stelle in Sartorius Buch. Beim Frühstück bilde ich mir dann ein, von der Straße spanische Wortfetzen zu hören, so nimmt mich das gefangen. Untertags am Strand dann Ablenkung mit einem guten Krimi von Joy Fielding. Die Sepharden sind wieder aus meinem Kopf verschwunden. Am Abend wollen wir es uns in einem Cafe am Hafen gemütlich machen und ein gutes Iskender Kebap genießen. Wir streifen herum und entdecken in einem Cafe einen Tisch direkt am Wasser. Wir nehmen Platz, scherzen mit dem Kellner und geben unsere Bestellung auf. Gegenüber sitzt eine amerikanische Familie, die eine Riesenportion Pommes Frites verdrückt. Daneben zwei ältere Damen, die sich auf Türkisch über das Geschehen am Hafen unterhalten. Auch wir genießen es, dem Treiben zuzusehen und es zu kommentieren. Plötzlich höre ich Spanisch vom Nebentisch. Ich blicke hinüber, höre konzentriert hin, nein die Damen sprechen Türkisch. Wir lachen über meine kleine aktuelle Besessenheit. Unsere Getränke kommen, eine Zigarette verkürzt das Warten auf das Essen. Schon wieder, ich höre schon wieder Spanisch. Auch auf die Gefahr hin mich bis auf die Knochen zu blamieren, ich muss die Damen ansprechen. Ich fasse mir ein Herz und packe mein höflichstes Türkisch aus und unterbreche das Gespräch der beiden. Auf meine Frage, ob es sein hätte können, dass sie zwischendurch eine andere Sprache als Türkisch sprächen, schenken sie mir ein warmes Lächeln und antworten mit „Ja! Wir sprechen Ladino, wir sind sephardische Jüdinnen.“ Damen

Fast hätte es mich aus dem Sessel gekippt, das Iskender Kebap  kommt. Wir sprechen weiter und sie erzählen ein wenig über sich und fragen auch mich aus. Ein Foto wird gemacht und sie verabschieden sich, um sich auf den Heimweg zu machen. Und ich bin glücklich, dass etwas, was mich immer schon interessiert hat, nicht nur Geschichte ist. Sondern etwas, das auch noch gegenwärtig ist nach über 500 Jahren- die Sepharden und der Ladino.

Seit Wochen Diskussionen über NSA, Prism, Snowden. Es ist eine Kultur des Misstrauens und der Angst, die sich in unsere Demokratie eingeschlichen hat. Nach außen zeigt sich unser westliches politisches System offen, transparent und tolerant. Aber das ist nicht die Wirklichkeit, so scheint es. Zu jeder Zeit und in jeder Staatsform gab es Spionage und Geheimdienste. Aber immer waren diese mit einem klaren Auftrag ausgestattet, nur bestimmte Personen und Gruppierungen zu überwachen. Die Regierenden wollten immer über innerstaatliche Gefahren und SpionGefährdungen von außen unterrichtet werden, um gegebenenfalls reagieren zu können. Das was jetzt seit Wochen die Diskussionen bestimmt, führt aber weit darüber hinaus. Was Edward Snowden öffentlich gemacht hat, betrifft uns alle. Zwar zeigen jetzt alle mit dem Finger auf die USA, aber ich bezweifle, dass europäische Staaten nicht auch von der modernen Technik Gebrauch machen und ihre BürgerInnen durchscannen nach Begriffen, Orten und Daten. Anti-Terrorpakete und Vorratsdatenspeicherung sind schon Alltag. Was bedenklich ist, ist die Umkehr der Überwachung in der Demokratie. Noch ist ein Transparenzgesetz in Österreich noch in der Diskussion, das würde uns BürgerInnen einem gläsernen Staat näher bringen. Derzeit läuft es eher umgekehrt, der Staat wünscht sich den gläsernen Menschen. Darum ist die Diskussion rund um Snowden so wichtig. Wir müssen uns alle darüber bewusst sein, dass auch die Privatsphäre Teil unserer Menschenrechte ist und somit unverletzlich. Allerdings gibt es in keiner mir bekannten Demokratie das Staatsrecht auf den gläsernen Menschen.

Wieder mal Deutschkurs. Wieder mal ein Wort, das die Schülerinnen nachfragen: Rummelplatz! Und dann passiert es wieder mal. Ich komme vom Hundertsten ins Tausendste. Als erstes fällt mir bei Rummelplatz natürlich das tolle Lied von Simply Red ein- Fairground. Das hilft aber nicht, denn wir haben ja Deutsch- und nicht Englischkurs. Also muss einnäherliegendes Beispiel her.geschichte

Es ist kurz vor Pfingsten, da ist es ein Leichtes mit Hilfe der Salzburger Dult das Wort Rummelplatz zu erklären. Hier könnte jetzt Schluss sein mit dem ganzen Worterklärungsrummel. Aber ich werfe eine Frage in den Raum: Was ist denn der meistbesuchte Rummelplatz der Welt? Meine Schülerinnen antworten prompt mit „Oktoberfest“. Jetzt könnten wir dann weitermachen mit der Grammatikübung.

Aber jetzt geht es mit mir durch. Da muss ich doch von der Gründung des Oktoberfestes erzählen, von der bayrischen Prinzessin Theresia, nach der auch die Theresienwiese benannt ist. Und diese Theresia hat mit ihrem Ehemann zur Zeit der bayrischen Herrschaft in Salzburg vor 200 Jahren im Schloss Mirabell gewohnt. Ihr Sohn Otto ist hier zur Welt gekommen. Nicht der Rehagel Otto, sondern der Otto, der der erste griechische König war. Damals als die Griechen nach der Befreiung von den Osmanen unbedingt einen König brauchten. Und der König Otto hat den Griechen die weißblauen Nationalfarben und das Wissen ums richtige Bierbrauen hinterlassen. Und dann meinte eine Schülerin: „Jetzt kennen wir den ersten griechischen König Otto. Den letzten griechischen König deutscher Herkunft kennen wir sowieso, den Otto Rehagel!“

So ist das im Deutschkurs, wenn man das Wort Rummelplatz erklärt.

 

Kürzlich fiel mir das Buch „Fremde Heimat“ in die Hände, es erzählt vom Schicksal der Vertriebenen nach 1945. Flucht und Vertreibung beschäftigen mich schon lange, allerdings steht die Gegenwart im Vordergrund. Die Kriegsschauplätze unserer Tage vertreiben wie in fremde heimatvergangenen Zeiten Menschen aus ihrer Heimat. Ob aus Bosnien, dem Kosovo, Afghanistan, Irak, Somalia oder Syrien. Viele Menschen aus diesen Ländern leben unter uns. Ich kenne viele berührende Geschichten. Ich sehe wie groß die Herausforderungen sind, in der neuen Heimat Fuß zu fassen. Was für die Gegenwart gilt, war auch vor fast 70 Jahren das Schicksal von Millionen. Es stellten und stellen sich viele Fragen:

Wie erträgt man es, wenn einem jede Sicherheit genommen wird? Was geht in einem vor, wenn man jeden Besitz und die festen Bindungen zu Familie und Freunden verliert? Vermisst man die vertraute Landschaft mit ihrem besonderen Licht und ihren Gerüchen? Und was passiert mit einem, wenn man in der Fremde völlig neu anfangen muss? Neue Sprache, neue Kultur. Wie haben die Menschen auf die Flüchtlinge reagiert, damals als es bei uns das Wirtschaftswunder noch nicht gab? Wie schwierig das Ankommen und Bleiben ist, erzählen die Menschen in „Fremde Heimat“. Als Erinnerung sollen nicht nur Straßennamen bleiben, wie zum Beispiel in Salzburg: Bessarbabierstraße, Banater- und Siebenbürgerstraße.

Wer sich für das Schicksal von Flüchtlingen und Vertriebenen interessiert, dem sei das Buch ans Herz gelegt. Der Umweg über die Vergangenheit macht manchmal den Blick klarer auf die Gegenwart.

http://www.rowohlt.de/buch/2923322

kollegienkirche

Kollegienkirche

Ein ganz normaler Arbeitstag. Am Abend dann noch ein Termin in der Katholischen Hochschulgemeinde. Und dann ein unvermutetes Angebot. Christian lädt mich ein mir die Rektorengruft in der Kollegienkirche zu zeigen. Normalerweise ist die Gruft mit einem zentnerschweren Stein verschlossen. Für die Renovierungsarbeiten in der Kirche wurde sie geöffnet. Das kann ich mir nicht entgehen lassen.

Hier liegen die Rektoren der benediktinischen Universität Salzburgs. Die Salzburger Benediktiner waren aufgeschlossene Humanisten, die neben der Würzburger Universität, sich als erste mit Immanuel Kants Philosophie auseinandersetzten. Die Bayern , die Salzburg besetzt hatten, schlossen vor 200 Jahren die Universität und nahmen auch das Universitätszepter mit nach München. Mit der Neueröffnung der Salzburger Uni 1962 kam auch das Zepter wieder retour. Jeder Universitätsrektor hat das Recht sich hier begraben zu lassen. Ein Recht, das in absehbarer Zeit kein Rektor in Anspruch nehmen wird, da auch für die Familie der Zugang zum Grab durch den schweren Stein unmöglich ist.

 

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Abgang zur Gruft- Faulräume links und rechts

Wir steigen mit Taschenlampen ausgerüstet die Stufen hinab, links und rechts vor der Gruft gibt es zwei kleine Räume. Christian sagt mir, dass dies wahrscheinlich „Faulräume“ waren. Mein fragender Blick führte zu einer etwas gruseligen Erklärung. Bevor man den Leichnam in der Gruft einmauerte, legte man ihn für ein Jahr in den Faulraum. Zeit genug, dass das Fleisch vermoderte und nur das Skelett übrig blieb, das dann würdig in der Gruft bestattet wurde. Das dürfte auch nicht sehr angenehm gerochen haben. Wie auch sonst zu jener Zeit die Gerüche eher als Gestank bezeichnet werden können. Darum gab es in den Kirchen einen übermäßigen Gebrauch von Weihrauch. In manchen Kirchen gab es besonders große Weihrauchkessel, die den ganzen Tag Wohlgeruch verströmten, erklärt mir Christian.

 

gruft 3

Grab eines Rektors

 

Die Gruft flößt mir Ehrfurcht vor der Ewigkeit ein. Danke Christian für die Augenblicke aus einer anderen Zeit, die du mir an einem ganz normalen Arbeitstag zum Geschenk gemacht hast.