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Jeder und jede soll nach ihrer Facon glücklich werden ohne Zwang durch Politik, Religion oder Tradition

Wieder einmal eine Burka/Niquab/Tschador/Kopftuch – Diskussion. Ein Thema, das wahrlich jedes Sommerloch füllt. Lange habe ich überlegt, ob ich da jetzt auch noch unbedingt meinen Senf dazugeben soll. In dieser Sache ist eh schon alles gesagt. Denn neu ist die Diskussion nicht, es wiederholt sich. Aber irgendwie kann ich nicht anders. Darum meine ganz persönliche Sicht der Dinge:

Mir ist es grundsätzlich völlig egal, wer sich wie anzieht. Ich mag Menschen, die nicht unbedingt einem modischen Mainstream folgen oder aber einen modischen Spleen haben. Ein lieber Freund mag furchtbar gerne Westernstiefel, ich trage Jahr und Tag meine Armreifen und eine gute Freundin zieht seit Jahren am liebsten pinke Kleidung an. Darum habe ich auch kein Problem mit traditioneller Kleidung, auch mit religiöser traditioneller Kleidung. Wer es mag bitte anziehen.

Das könnte jetzt mein Statement dazu gewesen sein. Ist es aber nicht, weil der Stoff auch ein politischer ist im Gegensatz zu Westernstiefel und Armreifen. Pink taugte auch für eine politische Diskussion.

Den Schleier ablegen

Aber hier geht es um den Stoff, den sich muslimische Frauen um den Kopf hüllen. In unzähligen Varianten, mal einfach, mal völlig dekorativ. Was ich nicht akzeptabel finde sind alle Formen, die das Gesicht verhüllen, das ist für mich eine Entmenschlichung, das brauche ich nicht. Also Burka geht für mich gar nicht. Die wenigen Frauen, die ich persönlich kannte, die voll verschleiert waren, kamen aus Afghanistan und  besuchten unsere Deutschkurse im Verein VIELE, das ist jetzt auch schon gut 10 Jahre her. Und diese Frauen atmeten jedes Mal auf, wenn sie unsere Räumlichkeiten betraten, denn da konnten sie die Verschleierung ablegen, es waren ja nur Frauen bei uns im Verein. Keine hat mir jemals gesagt, dass sie diese Verschleierung mit Freude trägt.

Die Kopftuchmode ändert sich

Die Kopftücher meiner Schülerinnen wandelten sich auch innerhalb der 20 Jahre, 1993-2013, in denen ich unterrichtete. Waren es anfangs meist Frauen, die ihre Kopftücher mit einem Knoten unter dem Kinn banden, hatte ich zum Schluss viele Schülerinnen, die die Variante mit dem Dutt am Hinterkopf und dem Tuch unter dem Tuch wählten. Vor 20 Jahren war es gar nicht schlimm, wenn ein paar Haare rauslugten, jetzt ist es sehr streng. Und es tragen auch mehr Frauen Kopftuch als früher, das ist mein Empfinden. Die meisten von ihnen freiwillig. Von manchen weiß ich, dass sie es gegen den Wunsch der Eltern oder auch Ehemänner tragen. Auch eine Form der Willensbildung.

Der Zwang zum Kopftuch

Aber es gibt ebenso Mädchen und Frauen, die es tragen müssen. Die ohne Bedeckung nicht raus dürfen. Und das mitten in Österreich. Beschämend ist das. Diese Frauen fühlen sich oft alleine gelassen. Uns Bio-Österreicher kümmert es nicht besonders und in den eigenen Communities finden sie wenig bis keine Unterstützung, wenn sie mit unverhülltem Kopf leben möchten. Während wir ständig darüber diskutieren, ob eine muslimische Frau eh überall ihren Kopf bedecken darf, vergessen wir auf jene, die das nicht möchten, aber müssen. Da wünsche ich mir einen stärkeren Schulterschluss in der Politik, den Glaubensgemeinschaften, den NGOs und den Communities.

Für oder gegen das Kopftuch?

Aber was ich mir am allermeisten wünsche ist, dass endlich Schluss ist mit der jahrzehntelangen Diskussion. Rund um Burka, Kopftuch oder Haar pur. Das bringt uns im Zusammenleben nicht unbedingt weiter, sondern trägt immer wieder dazu bei, dass wir vor lauter Kopftuchdiskussion übersehen was die meisten von uns, ob ohne oder mit Kopftuch gemeinsam haben:

Jeder und jede soll nach der eigenen Facon glücklich werden

ohne Zwang durch Politik, Religion oder Tradition

von  Thom Kinberger

Zu Beginn des Bundespräsidenten Wahlkampfes habe ich mich entschlossen meinen Facebook Account ruhend zu stellen. Das habe ich gemacht, weil mir schon der Schädel gebrummt hat. Die Positionen wurden zu radikal und die Wahlempfehlungen zu populistisch. Gerade so als müsste man den eigenen Positionen zur Sicherheit eine tiefe Prägung einhämmern und der Meinungshammer wurde von Tag zu Tag monströser. Dabei habe ich mir bei der Annahme von „Freunden“ durchaus Gedanken gemacht. Welche Informationen sind mir wichtig und wie vermeide ich eine „Meinungsblase“. Welche Kontakte möchte ich pflegen und welche Postings möchte ich mit meiner Facebook Community teilen.  Schon klar, dass negative Schlagzeilen am meisten bewegen. Angst und Untergangsszenarien werden aus allen politischen Lagern getrommelt. Eingepeitscht durch die digitalen Medien und deren anonyme Tastaturhelden wird der gesunde Menschenverstand von Kurzschlussreaktionen abgelöst. Das Ergebnis ist regelmäßig arm an Herz, unwissend und fantasielos. Wer sich auf die Kommentare im Netz einlässt, könnte schon in Versuchung kommen auf die Straße runter zu schauen ob dort nicht ein wütender Mob, mistgabelschwingend Wiedergutmachung fordert.

Mein doppeltes Engagement

Ich habe mich aufgrund der Wahldynamik gleich in zwei unterschiedlichen Personenkomitees engagiert. Zuerst für Herrn Hundstorfer und dann in der Stichwahl für Herrn Van der Bellen. Nicht weil ich denke, dass sich mündige Bürger dadurch in ihrem Wahlverhalten beeinflussen lassen, sondern weil ich an die Politik glaube. Politik ist die institutionalisierte Konsensfindung innerhalb einer Gesellschaft. Ich schätze den Berufsstand des Politikers hoch und weiß, dass die große Mehrheit den Job aus Überzeugung macht. Woran ich nicht glaube ist Zynismus.  Der Zynismus ist weit verbreitet und es erscheint vielen Menschen völlig abwegig, dass etwas existiert, das nicht dem Eigennutz dient. Eigenartiger Weise werden beinharte ökonomische Interessen widerspruchslos akzeptiert. Die Gier und das Ego scheinen die anerkannten Triebfedern allen menschlichen Handelns zu sein. Fällt es wirklich so schwer die Mitte zu finden? In einer Gesellschaft, die zunehmend die äußeren Ränder der politischen Positionen hysterisch hervorhebt, ist die wahre Herausforderung eine Stimme der Vernunft zu führen.

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Thom Kinberger

Der Blick aus der Zukunft

Vielleicht ist es zu viel verlangt diese Stimme in den sozialen Medien zu suchen. Entweder ist das Format dafür ungeeignet, oder es befindet sich noch in einem frühen Stadium der Anarchie. Vielleicht ist der „Online erregte Hammerschwinger“ gleichzusetzen mit dem Autofahrer aus den 70ern: Unangeschnallt und Zigaretten rauchend mit Kindern auf der Rückbank. Vielleicht schütteln wir in einer nicht so fernen Zukunft nachsichtig den Kopf über diese unbeschwerte Zeit der sozialen Unwissenheit.

 

Heute werden die Olympischen Spiele in Rio eröffnet. Im Maracana Stadion wird Samba getanzt. Die Fotograf/innen freuen sich über typische Rio-Bilder und Sport-Journalisten/innen schreiben von einer großen Feier. Die Realität schaut freilich anders aus. Im dritten Teil dieser Olympia-Serie soll ein Blick auf das heutige Brasilien abseits der Klischees gerichtet werden: Landlose, Indios, Schwarze, Schwule, Menschenrechtsaktivist/innen. Die „Spiele der Exklusion“ nähren sich aus der politischen (Un)Kultur eines Landes, das einen Großteil seiner Bevölkerung ausschließt.

Für Olympia wurden rund 80.000 Menschen vertrieben. Ihre Armensiedlungen standen im Weg. Jetzt entstehen dort Luxuswohnungen. Armut wird in Rio gleichgesetzt mit Kriminalität. Und nicht die Armut, sondern die Armen werden bekämpft: Jeden Tag stirbt in Rio mindestens ein Mensch durch Polizeigewalt. 80% der Opfer sind jung, schwarz und männlich. 2014 sind in Brasilien über 58.000 Menschen ermordet worden. Für 15% der Tötungen ist die Polizei verantwortlich.

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Eingang der Ehrentribüne des Maracana Stadions, in dem die Olympia-Eröffnung stattfindet. Gleich dahinter die Favela Morro da Mangueira. Bei der WM 2014 war durch die Nähe zum Stadion ihre Gesundheitsstation in der Sperrzone.

Fast täglich wird in Brasilien ein Mensch wegen seiner sexuellen Orientierung ermordet, berichtet die evangelische Kirche in Deutschland. 330 Schwule, Lesben und Transvestiten wurden allein 2013 durch homophobe Gewalt getötet. Die brasilianische Verfassung verurteilt zwar jede Form von Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung, und Homosexuelle können eine eheähnliche Gemeinschaft eingehen. In der Praxis werden Schwule und Lesben jedoch verfolgt, sind Opfer von Polizei-Willkür und werden grundlos in Haft genommen. In manchen Landesteilen haben es Todesschwadronen auf Schwulen und Lesben abgesehen.

Die CPT (Landpastoral der brasilianischen Bischofkonferenz) spricht von 2015 als einem „schwarzen Jahr“: 50 Bauern und Menschenrechtsaktivist/innen sind ermordet worden. Im Kampf um ihre Rechte auf Land. Das ist die höchste Zahl in den letzten 10 Jahren. Die Agroindustrie, der Bergbau und die illegale Abholzung des Regenwaldes hinterlassen blutgetränkte Erde. 135 Wasserkonflikte (z.B. durch den Bau von Staudämmen) im Jahr 2015 ist die höchste Anzahl seit aufgezeichnet wird. Insgesamt waren in Brasilien über 800.000 Menschen auf mehr als 21 Mio. Hektar Land betroffen. Das ist eine Fläche zweieinhalb Mal so groß wie Österreich.

70 Indigene wurden 2015 ermordet. Das ist um ein Fünftel mehr als im Vorjahr, berichtet CIMI (Rat der brasilianischen Bischofskonferenz für die indigenen Völker). Hunderte wurden in den letzten Jahren getötet, hunderte begingen aus Verzweiflung Selbstmord. Bischof Erwin Kräutler, langjähriger CIMI-Präsident, Träger des alternativen Nobelpreises und Kritiker von Megasport-Events spricht von Genozid. Und auch davon, jetzt mutig die Kirche und die Welt zu verändern. Damit sie überlebensfähig bleibt. Für alle.

 

Brasilien, Russland, China, Südafrika. Die Gruppe der führenden Schwellenländer sind inzwischen die wichtigsten Austragungsorte von Mega-Sportevents. Man erhoffte sich wirtschaftlichen Schwung, Tourismuseinnahmen und eine Imagekorrektur in der Weltöffentlichkeit. Stattdessen manövrierten sich die Länder in tiefe Krisen, die Wirtschaft, Politik und Soziales immer stärker erfassen.

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Mitte April hatte Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff nicht einmal mehr ein Drittel der Stimmen im Abgeordnetenhaus hinter sich. In einem kalten Putsch hat die konservative und extremistische Mehrheit im Parlament die Stimmung im Land ausgenützt. Was 2013 mit Demos beim Confederations Cup, dem Probetournier für die Fußball WM begonnen hatte, erreicht nun mit der Amtsenthebung einen einstweiligen Höhepunkt. Die neuen Machthaber hoffen nun, die Korruptionsermittlungen im Sand verlaufen lassen zu können. Aus Eigeninteresse. Immerhin wird gegen 60 Prozent der Kongressmitglieder ein Verfahren wegen Korruption, Stimmenkauf, Entführung oder Mord ermittelt. Wie konnte es dazu kommen? Sport sei ja nicht politisch, hören wir immer wieder von internationalen Spitzenfunktionären diverser Sportverbände.
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Entgegen den Erwartungen ihres Vorgängers Luiz Inácio Lula da Silva, unter dem sich Brasilien für WM und Olympiade beworben hatte, steckt die Wirtschaft in der tiefsten Krise seit Jahrzehnten. Die Inflation liegt trotz eines Leitzines von über 14 Prozent bei mehr als 10 Prozent und die Wirtschaftsleistung ist 2015 um rund 4 Prozent geschrumpft. Auch wenn die Gründe der politischen und wirtschaftlichen Krise vielfältig sind, ist eines auffällig und verbindet Brasilien mit anderen Austragungsländern: Für Mega-Sportevents werden Milliardenbeträge ausgegeben. Auch wenn man es sich eigentlich nicht leisten kann. Denn gleichzeitig liegen die Menschen in den Krankenhäusern auf den Gängen, werden oft gar nicht mehr aufgenommen, Schulen werden kaputtgespart, der Verkehr und damit auch das öffentliche Transportwesen kollabiert und Sozialleistungen werden– sofern überhaupt existent – gekürzt. Diese Bereitschaft für Spiele Geld ohne Ende zu investieren ist auch den internationalen Sportverbänden nicht verborgen geblieben. Es ist daher nicht überraschend, dass zum überwiegenden Teil Schwellenländer mit kaum ausgeprägten zivilen Kontrollmechanismen den Zuschlag erhalten haben. Die betroffenen Regierungen und die Sportverbände verbindet auch eine gemeinsame Arbeitskultur, die sich durch Korruption, autoritäre Strukturen, das Ignorieren von sozialen Folgen und dem Desinteresse um eine volkswirtschaftliche Vollkostenrechnung auszeichnet. In der folgenden Tabelle sind die Austragungsländer bzw. Städte der Olympischen Spiele sowie der Fußball WM der Jahre 2008 bis 2022 aufgelistet:
Sommer Olympia        Winter Olympia           Fußball WM
2008 Peking                      2010 Vancouver                2010 Südafrika
2012 London                     2014 Sotschi                      2014 Brasilien
2016 Rio de Janeiro         2018 Pyeongchang           2018 Russland
2020 Tokio                        2022 Peking                      2022 Katar

Es zeigt sich bei den internationalen Sportevents Olympia und Fußball WM klar: Demokratien als Ausrichter sind eine verschwindende Minderheit. Von 12 Ländern bzw. Städten sind mit London, Tokio und dem kanadischen Vancouver gerade mal drei Spielstätten in Demokratien beheimatet. Was auf den ersten Blick vielleicht überrascht, ist auf den zweiten Blick eine Konsequenz funktionierender Demokratie: Die Korruptionsskandale um die FIFA oder das Internationale Olympische Komitee sind durch Aufdeckungen wie jene der Panama Papers oder Ermittlungen des US-Justizministeriums ans Tageslicht gekommen. Selbst das lange für sauber gehaltene WM-Märchen 2006 in Deutschland versinkt inzwischen im Korruptionssumpf. In der öffentlichen Meinung stehen Mega-Sportevents spätestens seither für Geldverschwendung, Korruption und kriminelle Machenschaften.

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Wird in demokratischen Ländern die Bevölkerung gefragt, entscheidet sie sich gegen Olympia. Wie zuletzt in München, Hamburg, Stockholm, St. Moritz oder Oslo und zuvor auch in der Stadt Salzburg. In den autoritären Regimen von Schwellenländern wird diese Entscheidung über die Köpfe der Menschen hinweg von einer kleinen politischen Elite getroffen. In der nachstehenden Tabelle werden die ausrichtenden Länder nach dem Grad der Demokratie und dem Korruptionsausmaß benotet:

Sommer OympiaDemo- kratieKorrup- tionWinter OlympiaDemo- kratieKorrup- tionFußball

WM

Demo- kratieKorrup- tion
China14483Kanada79Südafrika2961
UK1610Russland132119Brasilien4476
Brasilien4476Südkorea2137Russland132119
Japan2018China14483Katar13622
Demokratieindex 2014 von The Economist bzw. Wikipedia (Liste von 167 Ländern:

Platzierung von 1 (ausgeprägte Demokratie) bis 167 (Diktatur)

Korruptionsindex 2015 von Transparency International (Liste von 167 Ländern):

Platzierung von 1 (wenig Korruption) bis 167 (viel Korruption)

Würden neben den Austragungsländern auch Sportverbände wie die FIFA oder das IOC in Hinblick auf Demokratie und Korruption durchgecheckt, wäre ein noch deutlich schlechteres Ergebnis zu erwarten. Wenig angebracht ist es als Europäer/in mit dem Finger auf andere Weltregionen zu zeigen. Das IOC und die FIFA haben nämlich ihre Sitze in der Schweiz.
„Sport hat das Potenzial die Welt zu verändern“, schreibt die Mandelas Biografin Evelyn Beatrice Hall. Dem muss man wohl ein „Ja, aber“ hinzufügen: Sport schafft das dann, wenn die aktuelle Debatte den Blick auf soziale, Umwelt und gesamtgesellschaftliche Fragen lenkt und autoritäre und korrupte Strukturen aufgebrochen werden.

Sportliche Wettkämpfe stehen für Fairness, klare Regeln und einen freundschaftlichen Umgang der Wettbewerbsteilnehmer/innen. So weit so schön. Alles heile Welt? Finanzdesaster, Korruption und Ausbeutung lassen daran zweifeln. Mit diesem Beitrag beginnt zu Rio 2016 und den olympischen Spielen eine Zartbitter-Serie unter dem Titel „schneller, höher, ärmer“

Rio

Rio musste Mitte Juni den Finanznotstand erklären. Bereits vor Beginn der Sommerspiele. Bisher kam der Kater meist nachher. Auf die Spiele in London 2012 reagierte die britische Regierung mit Kürzungen beim Sportunterricht in Schulen und im Breitensport. Die Uni Oxford hat berechnet, dass die Kosten bei Olympia durchschnittlich um das 2 ½ Fache überschritten werden. Wenige profitieren, die Rechnung zahlen die Steuerzahler/innen. Korruption, die Zwangsumsiedlung von Tausenden in Brasilien und zu befürchtende 4.000 tote Bauarbeiter in Katar machen deutlich: Transparenz und Menschenrechte zählen bei Megasport-Events nicht.

Zurück zum menschlichen Maß

Ein erstes Umdenken beginnt. Künftig werden die EM-Spiele auf mehrere europäische Länder aufgeteilt. Das kann ein Weg in die richtige Richtung sein. Kein Megaevent an einem Ort, sondern geteilte Kosten, Pflichten, Ehre und Nutzen. Für besonders geltungsbedürftige Herrscher autoritärer Regime wie Russlands Präsident Putin (Fußball WM 2018) oder die Scheichs aus Katar (WM 2022) wird das jedoch nicht ausreichen. Es braucht finanzielle Obergrenzen. Auch zum Schutz der Bevölkerung der Austragungsländer vor diesen Autokraten. Und es braucht eine zweifache „olympische Charta“: Alle Austragungskandidaten verpflichten sich zur Einhaltung der Menschenrechte und definierter Nachhaltigkeitskriterien. Es ist müßig wenn Spitzenfunktionäre in Sonntagsreden die olympischen Spiele 1994 in Lillehammer als letzte Spiele „mit menschlichem Maß“ loben, mit ihrem Handeln jedoch diese olympische Idee immer wieder ins Gegenteil verkehren. Höher und weiter, zugunsten weniger (Sportfunktionäre und bevorzugten Großunternehmen) und auf Kosten vieler, entspricht dem Geist einer entkoppelten Sport- oder Finanzwirtschaft, widerspricht aber dem Gemeinwohl. Der Widerstand gegen Megasportevents dieser Art nimmt Fahrt auf. In Austragungsländern genauso wie in Österreich. Initiativen wie nossojogo.at oder menschrechte-sind-olympisch.at stehen dafür Pate. Solche zivilgesellschaftlichen Initiativen dauern. Sie benötigen Geduld und Ausdauer. Aber sie geben die Richtung vor und könnten letztlich die olympische Idee mit dem menschlichen Maß versöhnen.

Wer die letzten Monate ein bisschen Zeit im Internet verbracht hat, kann eine besorgniserregende Entwicklung feststellen. Viele Posts und Kommentare vermitteln der Weisheit letzter Schluss. Manchmal in schöne Worte gekleidet oder so geschwurbelt, dass man sie zweimal lesen muss. Andere Posts sind da klarer und eindeutiger wie: „Schleichts euch“, „Das geht dich einen Scheißdreck an“ und vieles mehr. Am Besten funktionieren sie, wenn dann noch drei Rufzeichen drangehängt werden und ein ZORNIG-Emoji das Ganze noch garniert. Aber fast alle Posts vermitteln, dass hier jemand die Weisheit mit Löffeln gefressen hat.
In der aktuellen politischen Situation rund um die Türkei geht’s auch wieder rund.
Da geraten türkischstämmige Mitbürger unter Generalverdacht, sowieso schon immer diktatorische und islamistische Gedanken gehabt zu haben. Und jede Frau mit Kopftuch will sicher sofort die Scharia einführen. Und ÖsterreicherInnen, die nur einen Hauch von Kritik an der türkischen Politik üben sind rassistisch und sollten am Besten „die Fresse“ halten und sich nicht in türkische Angelegenheiten einmischen, weil sie demokratische Weicheier sind.
Es wird Zeit wieder normal miteinander zu kommunizieren. Meine Überzeugung ist:
Es gibt nicht schwarz ODER weiß in der Politik. Dazu braucht es Kritikfähigkeit, das Zulassen von anderen Meinungen, Zuhören, Nachdenken. Diese ausschließlichen Kommentare von allen Seiten bringen uns kein Stückchen weiter. Die Radikalisierung in Worten und Taten ist kein Zukunftskonzept: Natürlich kann sich jeder für die Innenpolitik eines anderen Landes interessieren und eine Meinung haben – mir sind die US-Wahlen auch nicht wurscht. Aber öffentliche Bekenntnisse, die unseren humanistischen Werten entgegenstehen sind nicht akzeptabel! Dazu gehören die vielen Posts, die Menschen entwürdigen, erniedrigen und sogar zum Töten aufrufen.
Also runter vom Gas, auch in den vielen Kommentaren und Posts. Stärke und Charakter beweist, wer Kritik aushalten und annehmen kann. Intelligenz zeigt sich nicht in Rufzeichen nach Hassposts, sondern in Worten, die durchaus scharfzüngig formuliert sein dürfen, aber nicht ausgrenzen, verletzen oder zu Hass aufrufen. Humanistisch und/oder gottgefällig ist, wer dem Nächsten mit Respekt und auf Augenhöhe begegnet.
Im 21. Jahrhundert müsste das möglich sein. Oder?