Derschmidt: Sag du es deinem Kinde 1
Ahnen- und Familienforschung ist im Trend der Zeit. Was wenn aber jemand in seinem 8. oder neunten Lebensjahr damit durch neugierige Fragen begonnen hat? Und viele Familienangehörige miteinbezieht? Und damit auch aneckt? Dadurch an künstlerischer Kraft gewinnt? Dann ist es Friedemann Derschmidt. Aber überlassen wir ihm selbst das Wort und fragen ihn, wie es begonnen hat, ob es ein ausschlaggebendes Erlebnis gab?
Friedemann Derschmidt:
Als etwa acht- oder neunjähriges Kind stand ich vor der Stammtafel in der Wohnung meiner Großeltern. Mir fiel natürlich als Besonderheit auf, dass da meine Großmutter und ihre acht Geschwister in sehr eigentümlicher Weise abgebildet waren. Jede Person war einmal von vorne, einmal im Profil und einmal im Halbprofil dargestellt. Das war erstaunlich – vor allem aber bemerkte ich, dass bei einem, nämlich dem Zwillingsbruder meiner Großmutter, nur eines dieser drei Bilder vorhanden war. Das regte mich an, zu fragen: „Großmutti, warum haben hier alle drei Bilder, nur der hier hat nur eines?“ „Weißt du, die anderen beiden Bilder haben wir abgenommen, das war nach dem Krieg zu gefährlich.“ „… aber warum gefährlich?“ „Da hatte mein Bruder eine SS-Uniform an.“ „Aha …“ (Damals wusste ich nicht, was das bedeutete.) „… aber warum kenn′ ich den nicht? Die anderen kenn′ ich ja mehr oder weniger.“ „Weißt du, der ist damals in Russland erschossen worden“, und nach einer kurzen Pause: „Das war wahrscheinlich auch besser so.“
Bin ich wer Besonderer?
In den späten 1960er- und den frühen 1970er-Jahren wurde ich in einer bekannten oberösterreichischen Großfamilie in dem Bewusstsein erzogen, etwas „Besonderes“ zu sein. Worin diese Besonderheit bestehen sollte, war unklar. Über die Jahre und nicht ohne die Hilfe einiger kritischer Mitglieder der Familie fand ich heraus, dass in der Großfamilie ein sehr komplexes Gespinst aus Mythen, Legenden und Lügen über die Vergangenheit und die Generationen der Großeltern und Urgroßeltern gewoben worden war. Ich erkannte, dass auch Menschen, die mir emotional sehr nahestanden, aktiv an dieser Selbstverherrlichung der Großfamilie teilhatten und teilweise daran bis heute festhalten. Innerhalb dieses Kokons aus Geschichten wurde mir schrittweise immer klarer, dass nicht wenige Familienmitglieder aktive und begeisterte Nazis gewesen waren. Von diesen waren viele NSDAP-Mitglieder, einige sogar hohe Offiziere bei SS und SA gewesen und manche hatten während des Dritten Reiches durchaus einflussreiche Positionen in allen Sparten der Gesellschaft bekleidet.
Ich begann Interviews mit Verwandten zu führen und eine ungeheure Fülle an Material zu sammeln. Das war der Zeitpunkt, der mich zu einer Art Familienchronisten machte. Dennoch hatte ich vorläufig nicht die geringste Ahnung, was ich mit all der Information anstellen sollte. In dem, was ich als „das System der Familie“ bezeichne, spielte mein Urgroßvater offensichtlich eine zentrale Rolle. Er war Arzt und Universitätsprofessor und ein nicht unbekannter Vertreter der Eugenik in Österreich. Seinen Studierenden bläute er ein, dass Familien- und Ahnenforschung ein wichtiges Werkzeug der – wie es damals hieß – „Rassenforschung“ sei und dass es von großer Wichtigkeit sei, viele Kinder zu zeugen und aufzuziehen. Er war Gründungsmitglied des „Reichsbundes der Kinderreichen“ und ging selbst mit bestem Beispiel voran. Dies wurde in der Folge zum Angelpunkt meines Projektes. Selbst heute noch fühlt sich eine Mehrzahl meiner Verwandten auf die eine oder andere Weise der Idee der Großfamilie verpflichtet. Gemeinsam mit meinem Cousin Eckhart Derschmidt veröffentlichte ich im Oktober 2010 eine Internetplattform auf der Basis von Web 2.0 und forderte die Familienmitglieder auf, sich daran zu beteiligen. Der Text der Startseite war zugegeben sehr provokant formuliert und verfehlte daher nicht seine Wirkung. Er lautete sinngemäß so: „Hat der Eugeniker Dr. Heinrich Reichel zu Beginn des 20. Jahrhunderts sein ganz persönliches Vererbungsexperiment gestartet? Schließlich hat er neun Kinder, 36 Enkelkinder und über 80 Urenkel usw. Sind wir das Ergebnis eines genetischen Versuches? Lasst uns dieses Experiment evaluieren …“
Die Spiegelung des Urgroßvaters
Ich versprach den Familienmitgliedern (1), die Internetseite zwei Jahre lang geschlossen zu führen (2010–2012). Von der Gesamtzahl aller Familienmitglieder (kleine Kinder und alte Leute, die keinen Computer benützen, mitgezählt) traten im Zuge eines sehr schwierigen und schmerzhaften Prozesses bis dato etwa ein Drittel als User bei.
Ironischerweise wurde ich zu einer Art Gegenspieler meines Urgroßvaters. Wie in einer Spiegelung tue ich eigentlich jetzt genau das, was er verlangte: nämlich Familienforschung. Im Gegensatz zu ihm interessiert mich die genetische Weitergabe innerhalb des von den Eugenikern so genannten „Erbstroms“ nicht im Geringsten. Ich versuche hingegen, die Weitergabe von Weltanschauungen, Ideologie und politischen Haltungen über sechs Generationen in dieser bürgerlichen Großfamilie zu thematisieren. Daraufhin begann ich, HistorikerInnen, SoziologInnen, PsychologInnen und andere ExpertInnen zu kontaktieren. Ich lud sie ein, unserem Projektbeirat beizutreten. In der Folge wurde die Projektdatenbank durch eine Vielzahl von Dokumenten aus Archiven, theoretischen Texten und anderen Materialien angereichert.
Im Zusammenhang mit einem anderen meiner Projekte war ich im Jahr 2011 zu einem Vortrag nach Leipzig eingeladen. Beim Spaziergang durch die Stadt sprang mir bei der Gedenkstätte für die Große Synagoge folgende Inschrift ins Auge: „Hier wurde am 9. November 1938 die große Synagoge der israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig durch Brandstiftung faschistischer Horden zerstört. Vergesst es nicht.“ Ich fragte meinen Begleiter, wo denn diese „faschistischen Horden“ hergekommen und wohin sie danach wieder verschwunden seien. Für mich war diese Inschrift insofern sehr erhellend, weil sie etwas Grundlegendes über den Umgang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus in vielen Bereichen und über sehr lange Zeit aussagt.
Für dieses Projekt ist es von großer Wichtigkeit, zu verstehen, dass die Nazis nicht wie eine Horde Wahnsinniger aus dem Nichts kamen und wieder darin verschwanden. Sie waren auch keine von außen auftauchenden „Anderen“, sondern kamen aus der Mitte der Gesellschaft: Die eigenen Väter und Mütter, Großeltern, Tanten und Onkel waren „die Nazis“. Wenn man einen Schritt zurücktut und mit diesem größeren Blickwinkel auch das 19. Jahrhundert mitbetrachtet, kann man am konkreten Beispiel dieser bürgerlichen Großfamilie gut aufzeigen, wie sich die vielen, oft sehr unseligen Wechselwirkungen zwischen Nationalismus, Jugendbewegung, Erneuerungs- und Reinheitsfantasien und nicht zuletzt moderner Wissenschaft usw. ergeben haben müssen.
Nicht einzigartig
Diese spezifische Familie ist diesbezüglich alles andere als besonders oder einzigartig. Das Projekt „Reichel komplex“ kann vielmehr als Modell für viele österreichische, deutsche und andere europäische Familien dienen, die in den Holocaust verwickelt waren. Für die jetzt lebenden Generationen geht es vermutlich weniger um Schuld als um Scham. Die Scham muss sich auch nicht notwendigerweise auf die (möglichen) Taten der eigenen Eltern oder Großeltern beziehen. Ich habe mittlerweile den Eindruck gewonnen, dass es sehr oft auch um die Frage geht, wie es sein kann, dass „mensch“ ein ganzes Leben lang nicht gefragt hat und nicht wissen wollte; oder dass sogenannte „Werte“ unhinterfragt weitergetragen und gepflegt wurden, die man dem österreichischen Nachkriegsnarrativ (2) konform in ihrer ideologischen Verfänglichkeit bagatellisierte oder für harmlos hielt und teilweise immer noch hält. Auch wenn ich in meine mütterliche Herkunftsfamilie blicke, finde ich dort weder NS-Opfer noch Widerstand, auch dort finden sich Fotos mit HJ-Uniformen, NSDAP-Mitgliedschaften, ein Gemisch aus völkisch-jugendbewegten Ideen, in diesem Fall kombiniert mit ausgeprägtem Katholizismus. Ja, selbst einen Wissenschafter hat die Familie Klebel zu bieten: Dr. Ernst Klebel (3), einen Historiker, der – man forsche nach – aus irgendeinem Grund nach 1945 einen Karriereknick gewärtigen musste. Der Briefbomber Franz Fuchs zitierte in seinen Bekennerbriefen ausführlich aus dessen Forschungen zu den „Bajuwaren“. Ich selbst jedenfalls werde trotzdem immer Teil dieses Systems bleiben, ob ich will oder nicht. Da gibt es kein Entkommen…
…wird fortgesetzt
Friedemann Derschmidts Buch gibt es hier: Sag es Du deinem Kinde
Ein besonderes Projekt ist das „Zwei Familien Archiv“: Two Family Archives
Anmerkungen:
(1) Ich bin dabei von meinem Urgroßvater und seinen beiden Brüdern Carl Anton und Friedrich ausgegangen. Berücksichtigt man deren unmittelbare Nachfahren inklusive ihrer PartnerInnen, sprechen wir von etwa 350 Personen.
(2) Siehe Margit Reiters Beitrag „Framework. Postnationalsozialistische Familien(re)konstruktionen im österreichischen Kontext“ in diesem Buch.
(3) Vgl. Ziegler, Wolfram. Ernst Klebel (1896–1961) – Facetten einer österreichischen Historikerkarriere. In: Hruza, Karel (Hg.). Österreichische Historiker – Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 2 (S. 489–522). Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2012.