Beiträge

Ich bin schockiert über die Nachrichten und Bilder aus Istanbul und anderen türkischen Städten. Was als Demonstration für das letzte Stückchen Grün in Taksim begonnen hat, wächst zu einer großen gegen die Regierung an. Ich habe schon einige Demos in Istanbul erlebt. 1996 und 1997 sind mir die Mütter in Erinnerung, die jeden Samstag vor dem Galatasaray Gymnasium saßen und die Bilder ihrer in Ostanatolien vermissten Kinder hochhielten. Ein stiller aber hartnäckiger Protest, immer flankiert von schwer bewaffneten Polizisten. Anfang der 2000er Jahre erlebte ich wütende Proteste streng Gläubiger als es um die Verlängerung der Schulpflicht ging. Das Beste war immer in einer Seitenstraße zu verschwinden, denn man wusste nie, ob es eskaliert. demo in wien

Jetzt ist es eskaliert. Viele junge Menschen, auch Bekannte von mir sind darunter und Menschen, die eigentlich viel zu verlieren haben, etwa Lehrer und Anwältinnen. Es ist der Protest gegen eine demokratisch gewählte Regierung, die in den letzten Jahren trotz Reformen doch immer mehr versucht die Freiheit des Einzelnen zu beschränken. Und die Reaktion der Regierung ist nicht angemessen, trängengasgeschwängerte Luft, Knüppel auf Menschen, Wasserwerfer, zensierte Medien. Demokratie lebt auch und besonders von der freien Meinungsäußerung. Demokratie lebt davon, dass alle Menschen ihr Leben nach ihrem Willen leben können. Demokratie lebt davon, dass gewählte Regierungen auch innehalten, nachdenken und Proteste ernstnehmen. Das passiert in der Türkei gerade nicht. Weltweit haben sich Menschen spontan zu Solidaritätskundgebungen zusammengefunden. Auch in Wien sind an die 2000 Menschen auf der Straße.

Möge die blutige Auseinandersetzung bald einem vernünftigen Miteinander weichen und die Demokratie gestärkt daraus hervorgehen.

http://occupygezipics.tumblr.com/

Dividieren in Thailand,Vietnam, Indien, der Mongolei, der Türkei und Österreich

Dividieren in Thailand, Vietnam, Indien, der Mongolei, der Türkei und Österreich

Immer nur deutsche Verben konjugieren, die richtigen Präpositionen finden oder Hörbeispiele durchnehmen ist langweilig im Deutschkurs. Manchmal singen wir Schlager wie „Das bisschen Haushalt“ oder wir beschäftigen uns mit Geschichte. Aber noch nie habe ich mit den Schülerinnen gerechnet. Und dabei hat es ein paar Überraschungen gegeben, für mich!

Mathematik ist nicht meine Stärke, aber Textaufgaben aus der 4. Klasse Volksschule sind für den Deutschkurs und für mich geeignet. Das Verblüffende war dann, wie die Frauen gerechnet haben. Etwa beim Dividieren. Da gibt es wirklich kulturspezifische Unterschiede, wie man rechnet und wie man es schreibt. Der Denk- und somit der Rechenvorgang ist etwa in der Türkei, in der Mongolei, in Thailand, Vietnam und Indien anders.

links bis drei zählen auf mongolisch und rechts bis sieben in Indien

links bis drei zählen auf mongolisch und rechts bis sieben in Indien

Spannend war auch das Zählen mit den Fingern. Wir strecken aus der Faust nacheinander vom Daumen beginnend die Finger hoch und landen bei einer Hand bei fünf. In der Türkei und in der Mongolei beginnt man mit den gestreckten Fingern und legt sie dann nacheinander in die Hand. In Indien schafft man es mit einer Hand bis 16 zu zählen. Dazu nimmt man den Daumen und legt ihn unter das erste Glied des kleinen Fingers und arbeitet sich so bis zum obersten Glied des Zeigefingers vor und schwupps ist man bei 16.

So hat auch mir Mathematik mal Spaß gemacht.

Die Getränkeladen sind gut gefüllt. Das Buffet ist aufgebaut. Noch einmal proben die drei Sängerinnen aus dem Kosovo, Indien und der Türkei ihr selbstgeschriebenes Lied. Das ABZ öffnet pünktlich seine Türen für das Flüchtlingsfest 2013. Um 18 Uhr kommen die ersten Besucherinnen undFoto Besucher. Schnell füllt sich das Haus. Es ist ein kunterbuntes Durcheinander von Menschen verschiedener Herkunft, Sprachen und Religionen.

Ich darf an der Bar arbeiten, freue mich alte Bekannte zu treffen und neue Menschen kennenzulernen. Es gibt einiges an Neuigkeiten. Ein junger Flüchtling aus Afrika hat eine Lehrstelle als Einzelhandelskaufmann. Ein Mädchen, das ich schon sehr lange kenne, wird heuer maturieren. Ihre Eltern sind sehr stolz. Ein junger Afghane beginnt im nächsten Monat eine Lehre als Elektrotechniker. Schöne Nachrichten. Aber das Wichtigste heute ist das Feiern. Die drei Sängerinnen präsentieren ihr Lied und bekommen einen Riesenapplaus. Ein weiterer Höhepunkt ist der Auftritt einer Schuhplattler-Gruppe. Viele Flüchtlinge sehen erst staunend zu, dann versuchen es alle gemeinsam und es macht Spaß.

Tanzen macht hungrig und durstig. Das Buffet wird gestürmt, an den Tischen mischen sich die Leute, es wird geplaudert und gelacht.Foto2

Es ist ein Abend, an dem die Freude und das Miteinander im Vordergrund stehen, für einige Stunden sind die Sorgen, Unsicherheiten und Probleme vergessen. Morgen ist dann wieder Flüchtlingsalltag.

 

Der Integrations-Aufreger der Woche ist sicher das druckfrische Buch von Inan Türkmen „Wir kommen“. Die Medien stürzten sich darauf, also musste ich mir das Buch auch zulegen. Gerade habe ich es fertig gelesen. Ein durchaus erfrischendes Buch, finde ich.  Ein junger Mann  erzählt aus seinem Leben, was er sich so denkt, wenn das Mitteleuropäische auf das Türkische trifft und umgekehrt. Er genießt es „uns Europäern“ den Spiegel vorzuhalten, durchaus humorvoll, aber nicht ohne Ernsthaftigkeit. Natürlich schafft er es mit seinen Provokationen vor allem die Kommentarseiten der Onlinemedien zu füllen. Und das ist gut so.

http://derstandard.at/1330389965365/Vorzeigemigrant-Meine-Haare-sind-tuerkisch

 Ja dürfen’s das?

Ein Knackpunkt in der ganzen Integrationsdebatte ist ja, dass viele Nicht-Migranten schwer damit umgehen können, wenn sich ein Migrant, insbesondere der 2. Generation, unverblümt zu Wort meldet. Es schwingt immer ein „Ja, darf der denn das überhaupt?“ mit. Das ist mir in vielen Diskussionen schon untergekommen, dass einige sich darüber beschweren, wenn „die da“ auch mitreden. Inan Türkmens Buch ist so ein „Ich sage mal, was ich mir denke“-Buch.

Gewöhnlich lesen wir über unterdrückte Frauen, bildungsunwillige Kinder und nicht-arbeitswillige Männer. Jetzt schreibt Türkmen über „hungrige“ junge Menschen, die mehr wollen und dafür viel zu geben bereit sind.  Er sieht viele Potenziale in der 2. Generation, die in Österreich und Deutschland brach liegen. Er ist überzeugt davon,  es hier in Österreich oder in der Türkei zu schaffen.

Kein Anti-Sarrazin

Er verklärt an einigen Stellen die Türkei, sein Blick reicht hier in vielen Aspekten nicht über das moderne und pulsierende Istanbul hinaus. Was er fordert, ist der Türkei und ihren Menschen auf Augenhöhe zu begegnen und er bringt einige Beispiele, die vielen von uns den Spiegel vorhalten. Und das mag niemand so gerne. Als Beispiel sage ich nur: Frauen in Führungspositionen. Wenn wir seit Jahren über Quoten diskutieren und merken, dass die gläserne Decke nur langsam dünner wird, dann hat die Türkei hier wirklich eine andere Tradition. Eine weibliche Führungskraft, insbesondere in der Wirtschaft, ist nichts Ungewöhnliches. Am anderen Ende stehen aber natürlich Frauen, die nicht in den Genuss einer Führungsposition kommen, die nicht die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben haben. Aber dieses Thema behandeln andere, von Seyran Ates bis zu Necla Kelek.

Wenn Türkmen allerdings meint, sein Buch wäre ein Anti-Sarrazin, dann ist es gut für die Werbung, aber den Tatsachen entspricht es nicht. Was er leistet ist, aus einer persönlichen Perspektive den ganzen Integrationsdebatten  eine zusätzliche Stimme zu geben, die auch gehört werden soll!