„Bosnien – ich komme wieder“, habe ich vor nicht allzu langer Zeit versprochen [hier nachzulesen]. Jetzt hat mich der Weg tatsächlich wieder hier hergeführt. Meine erste Station: Sarajevo.
Ich betrete die alte serbisch-orthoxe Kirche von Sarajevo. In dem Augenblick beginnt der Muezzin mit seinem Ruf zum Mittagsgebet. In der Kirche vermischt sich der Ruf mit den leisen christlichen Gesängen, die vom Tonband kommen. Ich setze mich und lasse mich von diesem Moment tragen. Ich blicke auf, vorne steht eine Frau, versunken ins Gebet. Die Ikonen blicken stumm herunter, wie schon seit Jahrhunderten. Ein Mann betritt mit seiner kleinen Tochter am Arm die Kirche. Mit einem liebevollen „Haydi!“ ermutigt er das Kind das erste Bild zu küssen. Fasziniert schaue ich zu, wie er mit seiner Tochter reihum alle Bilder und Reliquien küsst. Ein Vater-Tochter Augenblick, der nur den beiden gehört. Dann verlassen sie die Kirche wieder, vielleicht auf dem Weg nach Hause.
Die Frau beendet ihr Gebet, auch der Muezzin ist nicht mehr zu hören. Ich zünde noch zwei Kerzen an, eine für die Lebenden, eine für die Toten, so habe ich es in der rumänisch-orthodoxen Kirche gelernt, ein schönes Ritual. Jetzt erst fällt mir auf, wie laut der Straßenlärm von draußen hereindringt.
Die Altstadt von Sarajevo ist geteilt, ersichtlich. Auf der Straße steht: Sarajevo- Meeting of Cultures. Die Touristen machen Posen, fotografieren sich gegenseitig und zeigen nach Westen und nach Osten. Hier der neuere Teil, mit europäischen Häusern, die sich von Wien bis Istanbul finden. Dort das alte Sarajevo, osmanisch geprägt. Mit niedrigen Häusern, Bazaren, Werkstätten und Wasserpfeifenlokalen in schönen Innenhöfen. Es ist ein entspanntes Miteinander. Ich gehe durch die Straße der Kupferschmiede, ein altehrwürdiges Handwerk. Männer schlagen das Metall zu Tellern, Kannen und Kühlschrankmagneten. Mir rutscht dauernd ein „Kolay gelsin!“ heraus. Das sagt man in der Türkei zu jemandem, der arbeitet, wenn man vorbeigeht. Aber ich bin in Bosnien, die Männer schauen mich nur lächelnd an, verstehen mich natürlich nicht. Aber ich kann nicht anders, ich bewege mich durch das Viertel wie in Istanbul. Es ist noch ganz viel Orient hier in Sarajevo!
Auch die nahe Vergangenheit ist noch immer präsent. An manchen Häusern finden sich die Einschusslöcher aus der über dreijährigen Belagerung Sarajevos. Bei der Stadtführung ist es immer wieder Thema. Auf der Straße findet sich an vielen Orten die „Rose Sarajevos“, die an die tausenden Toten erinnert. Man kann nicht einfach vorbeiflanieren, die Erinnerung ist überall. Ich gehe in die Ausstellung Srebrenica Memorial im Haus direkt neben der katholischen Kathedrale, vor der eine Statue des gebeugten Johannes Paul II steht. Im dritten Stock empfangen mich die Bilder der Toten. Ein Film über die Belagerung der Stadt läuft. Rennende Menschen, Schüsse von den umliegenden Bergen, Schreie von Kindern. Das bosnische Sinfonieorchester, das in einer Tiefgarage gegen den Krieg anspielt. Die Miss Wahl 1993, die Frauen in Badeanzügen halten ein Transparent hoch: Don’t let them kill us!
Und immer wieder Menschen, die vom täglichen Überlebenskampf berichten, dem Brot- und Wasserholen, das nur unter Lebensgefahr möglich ist. Und Kinder, die sich in ein zerschossenes Auto setzen und „Wir fahren ans Meer“ spielen. Das ist Krieg.
Als ich aus der Ausstellung hinauskomme, strahlt die Sonne, die Menschen gehen ihrem Alltag nach. In Sarajevo herrscht jetzt Frieden. Aber nicht in Aleppo, nicht in Mossul, nicht in Kabul. Der Film ist nicht Vergangenheit, sondern grausame Gegenwart.