von Gudrun Kavalir
Bei meinem Weg in die Arbeit gehe ich an mindestens fünf Menschen vorbei, die auf dem Gehsteig sitzen und betteln. Sie grüßen, bitten um Geld, wünschen alles Gute. „Griiieß Gott. Ein Euro, biiitteee. Alles Gute la familia.“ Ich kenne mittlerweile ihre Gesichter. Eigentlich wollte ich mich zum Thema „Betteln“ nicht äußern. Aber ich hatte eine Begegnung, die mich aus meiner Gleichgültigkeit herausholte.
Eine Frau kam eines Morgens auf mich zu:
„Entschuldigung, darf ich Sie bitte was fragen, junge Frau?“
Ich sah mir mein Gegenüber an. Die Frau war etwa so alt wie ich. Sie hatte blondgefärbte Haare. Roter Lippenstift. Ihre Kleidung etwas zerschlissen, aber sauber. Eine Handtasche und ein Einkaufssackerl in der Hand. Salzburger Dialekt. Eine von uns.
„Natürlich“, antwortete ich, „wie kann ich Ihnen helfen?“
„Ich war heute schon bei der Beratung …ähm … bin im Bus gefahren … ähm … dann haben sie mir meine Geldtasche gestohlen … ähm … jetzt steh ich da und ich muss doch einkaufen …ähm … jetzt hab ich doch kein Geld dabei und …“
… und schon hab ich sie stehen lassen und bin mit einem gemurmelten
„Tut mir leid“
weitergegangen. „Die bettelt doch auch nur“, dachte ich bei mir.
Nach ein paar Metern fühlte ich mich plötzlich unwohl.
„Nur betteln!“. Was für ein verächtlicher Gedanke, den ich da hatte. Sie hat mich angesprochen und um Geld gebeten. Punkt. Sie sitzt nicht auf der Straße, mit einem Becher, gegen die Kälte in Decken gehüllt. Offensichtlich bettelnd. Sie geht auf fremde Menschen zu, erzählt eine Geschichte. Sie möchte ihre Würde ein Stück weit behalten.
Ich habe Respekt vor den Notreisenden, die aus anderen Ländern und schlimmen Verhältnissen in die reiche Stadt kommen, um ein paar Euro zu erbitten. Ich habe auch Mitleid mit Ihnen. Hin und wieder gebe ich etwas. Orangen, Weckerl, im Sommer Wasser, im Winter warme Socken und Handschuhe.
Nie gebe ich Geld…
Es gibt aber auch in unserer Gesellschaft Menschen, die arm sind. Die von Sozialhilfe leben und bei denen es manchmal nicht reicht, aus welchen Gründen auch immer. Ich hatte das nicht mehr im Blick. Bin in meiner täglichen Routine zu weit davon weg. Arm, das sind die Bettler auf dem Gehsteig auf meinem Weg ins Büro.
Ich drehte um. Die Frau hatte jemanden angesprochen, wahrscheinlich dieselbe Geschichte erzählt. Ich sagte: „Entschuldigung, ich glaube, Sie haben da was verloren…“
Und drückte ihr einen Geldschein in die Hand. Zumindest ein bisschen Würde wollte ich ihr mit diesem Satz lassen. Ich habe damit zwar mein schlechtes Gewissen beruhigt. Unwohl ist mir aber noch immer.