Alter-Lust und Frust: Der kleine Unterschied

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Ein Beitrag von Sonja Schiff

Nachdem ich in meinem ersten Blogbeitrag für Zartbitter davon geschwärmt habe, wie spannend und vielseitig mein Fachgebiet Gerontologie (Alternswissenschaft) ist, will ich heute die beiden Begriffe Alter und Altern vorstellen.

„Aber was gibt’s da vorzustellen?“ wird manche LeserIn denken. Weiß doch jeder! Alt ist wer……? Na, wer eigentlich? Wer nicht mehr arbeitet? Wer über 50 ist? Über 70? 100?

Portrait einer jungen und einer alten Frau

Copyright: Gina Sanders Fotolia.com

Vor vielen Jahren pflegte ich als Hauskrankenschwester eine relativ rüstige 102 jährige Frau. Sie lebte im Seniorenheim und verließ, bereits seit mehreren Jahren, nicht mehr ihr Zimmer. Auf die Frage, warum sie sich nicht zu den anderen Bewohnerinnen gesellen würde, meinte sie: „Sind doch alles alte Leute da draußen“.

Ist Alter womöglich eine Sache der Perspektive?

Wir GerontologInnen sagen, Alter ist ein Konstrukt. Jeder Mensch setzt sich mit seinem Älterwerden auseinander und konstruiert dabei sein Bild von Alter. Dabei werden gesellschaftlich bekannte Alltagstheorien (etwa „alt ist gleich krank“) mit den eigenen Vorstellungen und Erfahrungen in Verbindung gebracht. Meine 104-jährige Patientin war der Meinung „die da draußen“ wären alt, weil sie pflegebedürftig waren, während sie noch ganz rüstig war, also nicht alt.

Das gefühlte Alter wird maßgeblich von unserer Gesellschaft mitbestimmt. Der 45jährige Langzeitarbeitslose, der aufgrund seines Alters keinen Job mehr findet, fühlt sich auch alt, oft sogar sehr alt. Alter lässt sich also nicht an einer Zahl festmachen, auch nicht an einem körperlichen Zustand. Alter wird  gesellschaftlich konstruiert. Damit ist der Begriff auch wandelbar. Galt ein Mensch, der in Pension ging früher als alt, weisen heute Menschen dieses Alters, den Begriff „SeniorIn“ weit von sich.

Altern ist ein lebenslanger Prozess

Damit komme ich zum Begriff Altern. Für die Gerontologie ist Altern ein lebenslanger Veränderungs- und Entwicklungsprozess auf biologischer, psychologischer und sozialer Ebene. Als Gerontologin bin ich daher am Leben alter Menschen interessiert. Wenn ich mit hochbetagten Menschen in Kontakt bin, dann lerne ich einen Menschen kennen nach einer sehr langen Lebensreise. Wie dieser Mensch jetzt ist, wie er sich verhält, was er denkt, wie er sein Leben sieht, wie es ihm wirtschaftlich geht- all das ist das Ergebnis seines Lebensverlaufes. Auch deshalb bin ich begeisterte Gerontologin. Ich finde es spannend die Geschichten von Menschen zu erfahren. Da Altern ein Prozess ist, ist er bis zur letzten Sekunde gestaltbar. Das bedeutet, auch hochbetagte Menschen unterliegen einem Entwicklungsprozess und können entscheiden, Gewohntes noch zu verändern. Darum sollte man alte Menschen bis zur letzten Sekunde ihres Lebens auch ernst nehmen und die Entscheidungen für ihr Leben selbst treffen lassen. Auch bei Pflegebedürftigkeit.

Sonja 1

Sonja Schiff

Meine 102 jährige Patientin, übrigens eine äußerst selbstbestimmte und resolute Person, schilderte mir manchmal, wie es sich anfühlt, sehr alt zu sein. Sie erklärte mir dann: „Wissen Sie, wenn ich manchmal in den Spiegel sehe, dann erschrecke ich und denke mir, huch, wer ist diese runzelige, alte Frau! Bis ich bemerke, das bin ja ich“.  Dann lachte sie meistens schallend und meinte mit verschmitztem Gesicht: „Wissen Sie, die Seele wird nie alt“.

Frau R. starb mit 104 Jahren.  Ich durfte sie 2 Jahre lang begleiten.

Für mich war sie eine ganz besondere Frau. Sie war es, die mir die Begeisterung für das Thema Alter und Altern ins Herz gepflanzt hat.

Sonja Schiff ist akademische Gerontologin und Altenpflegeexpertin. Sie berät Firmen und Pflegeeinrichtungen, hält Pensionsvorbereitungsseminare und bildet Wechseljahreberaterinnen aus.

http://www.careconsulting.at und http://www.wechselrat.at